Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
einen Wettlauf, der einem Kind die Gelegenheit verschaffte, sich bei jeglicher Gruppe von Erwachsenen Gehör zu verschaffen, entzückte ihn und ergab noch dazu auf wunderbare Weise Sinn. Ein Kind holt in einem Wettstreit, bei dem es auf die Geschwindigkeit ankommt, alles aus sich heraus und nimmt es klaglos hin, dabei zu verlieren. Tahn wünschte, er hätte dieses Rennen sehen können; als Junge hätte er gern selbst daran teilgenommen.
»Die Teilnehmer dürfen nicht älter als zwölf Jahre sein. Zwar bleibt man bis zum Alter von achtzehn Jahren Melura, aber wenn man aus der eigentlichen Kindheit schon ins Jugendalter übergegangen ist, wird man zum Lauf nicht mehr zugelassen.« Rolen versuchte sich aufzusetzen, sank aber wieder zu Boden. Sein Brustkorb hob und senkte sich von der Anstrengung, und sein Röcheln durchbrach die Stille.
Tahn ließ seine Fragen unausgesprochen und erlaubte es dem Sheson so, wieder zu Kräften zu kommen. Er veränderte seine Körperhaltung und entlastete damit die Blutergüsse, die der Steinboden hervorgerufen hatte. Die Bewegung erinnerte ihn an seine Ketten, die klirrten und wie Bootsanker an seinen Armen zogen. Aber sein Unbehagen war nicht allein körperlicher Natur. Rolens Worte hatten ihn daran gemahnt, dass er seinem eigenen Wandel sehr nahe war und bald seine Jugendtage hinter sich lassen würde, um die Bürde der Entscheidungsfreiheit und Verantwortung auf sich zu nehmen. Vor drei Tagen war das Mindere Licht zunehmend gewesen, und Tahn hatte errechnet, dass es binnen vier Tagen ganz rund sein würde.
Es war der Vorabend seines Einstands.
Er konnte sich keinen Ort vorstellen, an dem es bitterer als hier gewesen wäre, diesen Wendepunkt zu erleben.
Schlimmer noch, es würde niemanden geben, der als Erster Beisteher für ihn fungieren würde, niemanden, der den Moment auch nur bemerken würde. Hambley war eine ganze Welt entfernt, Helligtal nur noch eine ferne Erinnerung. Das Ritual, das er durch die Fenster der Feldsteintaverne beobachtet hatte, würde für ihn nicht stattfinden. Er würde dennoch älter werden, und der Wandel würde eintreten, während das Mindere Licht wieder abnahm, bis es völlig dunkel war. Aber die Feierlichkeiten und der Beistand von Freunden würden kein Teil seiner Erinnerung sein. Stattdessen: Schmutz, Kälte, unbarmherziger Stein, düstere Schatten und Lippen, die brannten und bluteten. Wunde Haut, das misstönende Klirren der Ketten und die traurige Geschichte eines Sheson, der sich freiwillig für den Tod entschied, würden den Rahmen seiner Zeremonie bilden. Tahn ließ den Kopf hängen und murmelte verzweifelt einen Fluch über die Umstände, unter denen er ins Mannesalter eintreten würde.
Rolen fragte mit entsetztem Unterton: »Tahn, willst du damit sagen, dass du kurz davorstehst, deine Verantwortung auf dich zu nehmen?«
Tahn hatte diesen Ausdruck dafür noch nie gehört, aber er war zum dritten Mal froh, dass die Dunkelheit sein Gesicht und seine Hände verhüllte. Er wollte nicht, dass Rolen die Trauer sah, die ihn erfasste. Balatin war gestorben und würde nicht da sein, um ihm als Beisteher zu dienen. Hambley war gern bereit gewesen, die Aufgabe zu übernehmen, und Tahn hatte sich schon lange darauf gefreut, dass er ihn an jenem Tag unterstützen würde. Jetzt würde auch er nicht da sein. Tahn fluchte erneut und weigerte sich, dem Sheson zu antworten.
Tahn hörte den Lenker in der Dunkelheit auf sich zukriechen. Das Schrammen von Fleisch über den Steinboden, begleitet vom Schleifen der eisernen Kettenglieder, verstärkte die Gefühle, die in Tahn aufwallten, und drohte, ihn in Schluchzer ausbrechen zu lassen. Er biss sich auf die Lippen und hielt sich eilig die Narbe ans Gesicht, um wieder den altvertrauten Trost zu verspüren. In seiner Hast vergaß er, welche seiner Wangen unversehrt war. Seine Wunden brannten, als seine Hand sie berührte, aber er ließ sie dennoch auf seiner Wange ruhen und drückte sogar noch kräftiger zu, forderte das Brennen heraus und genoss es, als der Kummer Schmerzspitzen wich, die ihm den Hals hinab und bis in die Augen zuckten.
Dann drang eine Hand in den gelben Lichtschein zwischen ihnen vor. Tahn spähte durch den Lichtkegel und sah verschwommen die Umrisse von Rolens Kopf, wie einen mit feuchter Kohle gezeichneten Schattenriss. Aber Tahn sah ein gütiges Gesicht. Dann schaute er auf die ausgestreckte Hand des Sheson herab. Die Handschelle hatte eine so tiefe Wunde gerieben, dass unter ihr ein Ring
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