Das Gift der alten Heimat
unmusikalisch ist.«
Johnny Miller war ein lustiger Vogel. Er blühte richtig auf, seit er den Fuß auf den Boden seiner alten Heimat gesetzt hatte. Von dem harten Geschäftsmann, als den man ihn in Amerika kannte, war hier nichts mehr zu bemerken. Doch dieser Eindruck täuschte. Ein Mann wie John Miller interessierte sich niemals nur für rheinische Bratwurst, einen guten Tropfen, schönes Wetter, launische Lieder und ähnliches. Er hielt sein Auge stets auch offen für alles Geschäftliche. Schon nach kurzer Zeit hatte er sich so ein Bild von der Firma seines Neffen Paul verschafft. Der Laden lief gut. Paul war aber auch hinter allem her. Und Erna trug ihren Teil dazu bei, indem sie Paul alles, was ihn in seinem Einsatz für den Betrieb hätte stören können, vom Hals hielt. Darüber hinaus machte sie die Buchhaltung der Firma, der, um zu expandieren, nur eines fehlte – Kapital. Niemand hätte dies rascher und klarer erkennen können als ein Mann wie John Miller. Er sprach darüber aber nicht mit Paul, sondern begrub diese Erkenntnis vorläufig in seiner Brust.
Paul bot ihm an, in den Tagen, in denen er in der Heimat weilte, sich ausschließlich ihm zu widmen und die Arbeit zu vernachlässigen. Das kam aber für Johnny Miller nicht in Frage, er lehnte das ab.
»Wir können uns abends zusammensetzen«, sagte er. »Tagsüber finde ich mich schon allein zurecht.«
Er ging viel spazieren, machte Fotos, erschien an Ernas Mittagstisch, war begeistert von dem Gebotenen, schlief danach ein Stündchen und verließ dann wieder das Haus. Das Wetter spielte mit, ein Tag war schöner als der andere.
Mit Karl und Willi, den Söhnen des Hauses, sprach der Onkel aus Amerika, den sie in ihr Herz geschlossen hatten, meistens über die bevorstehende Reise nach München. Das war ihnen ein Beweis, daß er sein Versprechen nicht vergessen würde.
Mitte der Woche mußte Paul eine kurze Geschäftsreise antreten. Johnny benützte die Gelegenheit, abends allein auszugehen. Erna blieb lieber zu Hause. Johnny wollte nicht nur ein Lokal kennenlernen, sondern sich einen umfassenden Einblick in Rheinstadts Gastronomie verschaffen. Er zog also durch die Lokale.
Wenn man in Rheinstadt von Lokalen sprach, so mußte man diesen Begriff etwas einschränken. Das Städtchen besaß genau elf Lokale, in denen die Bürger verkehrten – neun Wirtschaften und zwei Weinlokale. In den Wirtschaften saß man an gescheuerten Tischen und würzte das Bier mit Politik; in den Weinlokalen hatten die Tische weiße Decken, die Kellner trugen einen Frack, und das Gespräch drehte sich zwar ebenfalls um Politik, aber sehr oft auch um den Stand der Aktien oder um Konkursmeldungen. Man sieht daraus, daß es sogenannte Niveau-Unterschiede gab; die Weinlokale waren die vornehmeren Etablissements.
Johnny Miller nahm's, wie's kam. Nacheinander steckte er den Kopf in die Türen dreier Wirtschaften, trank jeweils ein Bier, studierte die Speisekarten, registrierte die Preise, bemerkte Unterschiede und lauschte den Gesprächen an den Nebentischen. Um die Enttäuschung der Kellner über seinen geringen Verzehr zu lindern, setzte er das jeweilige Trinkgeld, das er spendierte, verhältnismäßig hoch an. Als viertes Lokal lag das ›Rheinfäßchen‹ am Wege, eines der Weinlokale. Miller ging hinein und setzte sich an einen leeren Tisch unweit der Tür. Die meisten Tische waren leer, nur um einen in der Nähe des Eingangs zum kleinen Büro des Geschäftsführers hatte sich eine Gesellschaft von fünf älteren Herren geschart, denen gehobene Berufe und Wohlhabenheit anzusehen waren. Sie unterhielten sich lebhaft. Dem neuen Gast, der gekommen war, schenkten sie keine Beachtung. Den Lachsalven, die immer wieder aufbrausten, war zu entnehmen, daß an diesem Tisch ›Herrenwitze‹ erzählt wurden. Getrunken wurde auch fleißig.
Miller nahm die Weinkarte und schlug die letzte Seite auf. Zum Kellner, der kam, um ihn zu bedienen, sagte er: »Einen Rüdesheimer Berg, Trockenbeeren Auslese.« (Das war die teuerste Flasche auf der Karte.)
Mit dem Kellner gingen Veränderungen vor sich, die Beflissenheit zum Ausdruck brachten. Sein Blick wurde respektvoll, der Oberkörper senkte sich zwanzig Grad nach vorn. Dadurch kam eine elegante Verbeugung zustande, mit der der Kellner sagte: »Sehr wohl, mein Herr.«
Johnny Miller kannte aus der Zeit, in der er noch der am Rhein beheimatete Uhrmachergeselle Johann Müller gewesen war, die zwei berühmten deutschen Sprichwörter:
›Bier auf
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