Das Gift der alten Heimat
wir müssen ihn suchen. Unten wartet meine Frau –«
»Wo wartet die?« unterbrach Emma.
»Unten im Auto.«
»Dann hol sie bitte rauf. Du kannst sie doch nicht da sitzen lassen.«
»Laß mich erst ausreden. Wir müssen Onkel Johann suchen. Ich muß ihm sagen, daß sich unsere ganze Sippschaft, unsere Väter und Mütter ihm gegenüber nicht gut benommen haben, als sie ihn damals ziehen ließen. Ich möchte mich für sie alle entschuldigen. Das ist das Geringste, was er beanspruchen darf. Mein Gott« – er überflog den Brief noch einmal – »wie sehr muß er gefühlt haben, wie tief die Kluft zwischen ihm und uns geworden ist! Wie selbstlos aber hat er die Brücke geschlagen, die damals in die Brüche ging!«
Paul Müller stand auf. Er blickte durch die offenen Türen auf die wahllos in den Zimmern stehenden Gaben des Onkels, zwischen denen, wie eine verängstigte Maus Emma Kerbel saß und sich die Tränen aus den Augen wischte.
»Kennst du noch andere Verwandte, bei denen er sein könnte?« fragte Paul.
»Nur noch Onkel Josef in Köln-Nippes«, erwiderte sie. »Ob er aber zu dem fährt? Der hat sich doch nie um einen von uns gekümmert?«
»Das haben wir alle nicht«, sagte Paul ehrlich. »Ich muß es versuchen mit dem.« Er blickte seine Kusine an und hatte einen Gedanken. »Komm doch mit, Emma, mach den Laden zu. Platz haben wir im Auto, und meine Frau wird sich freuen, dich näher kennenzulernen.«
»So plötzlich …« Emma blickte ihn unsicher an.
»Warum nicht? Wir liefern dich nach der Fahrt in Bochum wieder ab.«
»Wenigstens eine halbe Stunde müßte ich schon noch Zeit haben, um hier ein bißchen Ordnung zu schaffen …«
»Das läßt sich machen«, sagte Paul Müller. »Ich kann ja in der Zwischenzeit mit meiner Frau irgendwo eine Tasse Kaffee trinken und komme dann wieder, um dich abzuholen.«
»Ein bißchen Kaffee hätte auch ich noch, den ich euch aufbrühen könnte«, meinte Emma.
»Und wer räumt dann auf?« Paul schüttelte den Kopf. »Nee, nee, liebe Emma, machen wir's so, wie ich gesagt habe.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Also in einer Stunde. Ich komme gar nicht mehr rauf, sondern läute nur unten. Klar?«
Emma nickte.
Mit dem Aufräumen klappte es aber dann doch nicht so richtig. Kaum war nämlich Vetter Paul verschwunden, begehrte schon wieder jemand Einlaß. Emma schob gerade die Stoffballen zu einem Stapel zusammen, als die Türglocke schrillte und Emma einen Seufzer entlockte. Ihr Erstaunen war dann groß. Der großmächtige Schrotthändler Alfred Malmut stand auf der Matte. Für die kleinen Leute in der Adalbertstraße galt er immer noch als ein Mann, der was an den Füßen hatte. Daß in Wahrheit mit ihm gar nicht mehr soviel los war, ahnten nur solche, die geschäftlich mit ihm zu tun hatte und feststellen mußten, daß die Zeiträume wuchsen, in denen Malmut seine Zahlungen leistete.
Emma Kerbel erschrak, als sie den Schrotthändler erblickte. Von dem Besuch Millers, den Malmut zu verzeichnen gehabt hatte, wußte sie; Onkel Johann hatte sie davon in Kenntnis gesetzt. Bar des Schutzes durch den Onkel fürchtete sie nun instinktiv, daß der Schrotthändler nicht gekommen sei, um ihr das von Johann angekündigte Honorar zu bringen, sondern um die Stoffteile abzuholen und ihr bei der Gelegenheit noch einmal Saures zu geben. Sie war deshalb äußerst erstaunt, als Malmut sie freundlich anlächelte, wobei er den Hut zog und sagte: »Guten Tag, Fräulein Kerbel. Ich hoffe Sie nicht zu stören.«
»Guten Tag, Herr Malmut«, antwortete Emma hastig. »Einen Moment bitte, ich bringe sie Ihnen gleich …«
»Was bringen Sie mir, Fräulein Kerbel?«
Emma, die sich schon abgewendet hatte, drehte sich wieder Malmut zu.
»Die Stoffe, Herr Malmut.«
Über die Stoffe war in der Aufregung, die der Besuch John Millers im Hause Malmut hervorgerufen hatte, dort gar nicht mehr gesprochen worden. Der Schrotthändler hatte nur getobt und seine drei ›Weiber‹ auf den Mond schießen wollen, obwohl er ursprünglich derjenige gewesen war, der den Anruf seiner Frau bei Emma Kerbel veranlaßt hatte.
»Wegen der Stoffe«, sagte er nun lächelnd zur Näherin, »wegen des Ärgers, der Ihnen in dieser Angelegenheit von meiner Frau verursacht wurde – ohne mein geringstes Wissen, betone ich! –, könnten wir uns doch auf der alten Basis einigen, Fräulein Kerbel. Das wäre mein Vorschlag.« Er drehte den Hut in den Händen.
»Ich verstehe Sie nicht, Herr Malmut.«
Er war wesentlich
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