Das Gift der Engel
kriegen.«
Dr. Schneider lachte kurz. »Überzeugungen haben vor Gericht noch nie geholfen, Herr Alban. Was wir brauchen, sind Beweise.«
»Ich werde welche finden.«
Luisa hat ihm zwei Scheiben Brot und Tee gebracht, und dann ist der Mann gekommen. Jetzt sitzt er vor ihm und sieht ihn schweigend an. Der Junge hält den Blick nicht aus. Er sieht weg. Das brennende Gefühl bleibt.
Er spürt, wie ihm die Tränen in die Augen steigen. Sein Hals schmerzt, als hätten sich die salzigen Tränen in seiner Gurgel angesammelt.
Mit einer einzigen Bewegung packt der Mann den Jungen und wirft ihn auf das schmale Bett. Es geht so schnell, dass der Junge erst versteht, was geschehen ist, als er schon auf dem Rücken liegt und nach Luft schnappt.
Der Mann sagt etwas. Der Klang seiner Stimme füllt den Raum mit Falschheit und Aggressivität. Dabei spricht der Mann nicht einmal laut. Nur scharf und kurz. Dem Jungen tut es weh. Er hört nicht darauf, was der Mann sagt. Für ihn hat nur Bedeutung, wie er es sagt, und dem Jungen kommt es vor, als schneide ihm jeder Ton in die Seele.
Er soll aufstehen, sagt der Mann. Er soll es tun, noch ein einziges Mal.
Die Stimme des Mannes wird schmeichelnd, aber sie trieft nur so vor Falschheit.
Für den Jungen werden die Worte zur Folter. Es ist, als würde ihm jemand Schrauben ansetzen, aber nicht an den Daumen, sondern an seinem Herzen, seiner Seele, seinen Empfindungen.
Irgendwann wird dem Jungen klar, dass der Mann das Zimmer nicht verlassen wird, bis er gehorcht.
6
Die Baustelle war schon von Weitem zu erkennen.
Ein großes Stahlgerüst führte wie ein Tor über der Straße Stromleitungen auf die gegenüberliegende Seite zu einem Verteiler; am Rande des Gehweges leuchtete hinter einer Absperrung ein blaues Mietklo. Die Baugrube selbst konnte Alban vom Wagen aus nicht sehen, aber er vermutete, dass sie sich irgendwo hinter den Holzstapeln befand, die sich neben dem Plastikhäuschen türmten.
Er musste sich zwei-, dreihundert Meter weit gedulden, bevor er einen Parkplatz fand. Als er sich dann zu Fuß dem Grundstück näherte, konnte er die Szenerie besser in Augenschein nehmen.
Zimmermanns Haus, das gleich neben dem Baugrundstück stand, war ein dreistöckiger, grauer Vorstadtbau. An der nackten Seitenwand war der Umriss von Dachschrägen zu sehen. Offenbar war das Nachbarhaus abgerissen worden, um Platz für ein neues Gebäude zu machen.
Alban näherte sich dem Zaun. Weiter hinten unterhielten sich ein paar Arbeiter. Fast jeder hatte eine Zigarette im Mund. Nur ein paar Meter von Alban entfernt führte eine schmale Rampe in die Erdgrube, in der ein kleiner gelber Bagger wartete. Einer der Arbeiter sonderte sich von der Gruppe ab, warf seine Zigarette weg und kam auf den Zaun zu. Kurz bevor er Alban erreichte, bog er auf die Rampe ab.
»Entschuldigung«, rief Alban, doch der Mann reagierte nicht. Alban rief noch einmal, daraufhin drehte sich der Arbeiter überrascht um und kam zum Zaun herüber. Er trug eine blaue Arbeitshose, ein kariertes Hemd und eine schwarze Wollmütze.
»Was gibt’s?« Er sah Alban misstrauisch an und stellte das eine Bein auf einen Stapel Bretter. Die Geste erinnerte Alban an einen dieser alten Westernhelden. John Wayne.
Alban entschied, sich als neugierigen Spaziergänger auszugeben, der von dem Mordfall in der Zeitung gelesen hatte.
»Wo genau hat denn die Leiche gelegen?«
Der Arbeiter grinste. »Sie sind bestimmt schon der Zehnte, der uns das heute fragt. Manche latschen sogar einfach hier auf der Baustelle rum. Heute Morgen haben wir sogar ein paar Kinder verscheucht.« Er schüttelte den Kopf, zog eine neue Zigarette hervor und zündete sie an.
»Haben Sie den Toten gefunden?«
»Nee, das war der Chef. Da kommt der einmal als Erster auf die Arbeit, und dann so was.« Der Mann wies in die Grube. »Da unten, wo jetzt der Bagger steht. Sah wohl schon ziemlich grau aus, hat der Chef gesagt. Und der Dings lag gleich daneben.«
»Der Dings?«
»Na, der Marmorkopf. Der war so voll Dreck, dass der Helmut erst gar nicht gesehen hat, was das war. Sah aus wie ein Stein oder so was.«
Merkwürdig, dachte Alban, dass die Polizei auf der Beethovenbüste noch Fingerabdrücke feststellen konnte, obwohl sie so lange hier draußen im Matsch gelegen hatte.
»Warum wurde der Tote so spät gefunden? In der Zeitung stand, er hätte schon eine ganze Weile hier gelegen.«
Der Mann wies nach hinten. »Schauen Sie sich das mal an.«
Alban erkannte mehrere
Weitere Kostenlose Bücher