Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
falls die Zeit noch reichte. In diesem späten Stadium würde ich überall hingehen, wo man mich annähme.
Die Aufzugtür öffnete sich im vierten Stock. Ich trat auf den Flur hinaus und stand vor dem Schwarzen Brett, wo alles angefangen hatte. Der Ansturm der neuen Studenten würde in weniger als einer Woche beginnen, und so hatte jemand den Flickenteppich aus Flyern und Mitteilungen von dem Brett heruntergenommen. Die von Nadelstichen übersäte Korkplatte war leer bis auf ein Poster, das die Neulinge im Sprachendepartment willkommen hieß. Es gab Fotos der Mitarbeiter, und darunter standen noch ein paar kurze Mitteilungen. Das Poster war groß, aber es verdeckte doch nicht ganz die Suchanzeige nach einem deutschen Muttersprachler, die Anfang Juni auf das Brett gekritzelt worden war. In verblichenem roten Filzstift lugte das Wort an der rechten unteren Ecke des Posters hervor: BIBA XXX . Ich trat näher heran, um es zu berühren, ich fuhr mit der Fingerspitze an den Buchstaben ihres Namens und an dem dreifachen X entlang und stellte verblüfft fest, dass ich mir nicht wünschte, ich hätte sie niemals kennengelernt.
An meinem alten Postfach stand mein Name nicht mehr. In all den leeren Fächern lag der gleiche, schlecht fotokopierte Handzettel mit dem Angebot an Graduierte, als Englischlehrer in der Schweiz zu arbeiten. Die Macht der Gewohnheit veranlasste mich, das Blatt aus dem Fach zu nehmen, das meins gewesen war.
Die Flügeltür vor dem Korridor des Departments wurde nicht von einem Feuerlöscher offen gehalten, wie es während der Vorlesungszeit immer gewesen war, sondern sie war geschlossen. Durch das schmale Fenster sah ich Caroline Alba in der Mitte des Korridors; sie unterhielt sich lebhaft mit einer Kollegin. Ich legte die Hand auf die Stahlplatte in der Tür, um sie aufzudrücken, aber dann fiel mein Blick noch einmal auf den Flyer in meiner Hand. Die Worte » Beginn: sofort« hatten meine Aufmerksamkeit erregt. Ich nahm die Hand von der Tür, wandte mich vom Department ab und lief zum Aufzug.
Die Frau am Telefon, Sylvia, war eine Auslandsbritin, die mit ihrer Familie in Bern lebte und dort nicht besonders erfolgreich versuchte, in der Stadt eine englische Sprachschule zu etablieren.
» Der Lehrer, mit dem ich gerechnet hatte, hat mich im Stich gelassen«, sagte sie. » Das kommt in dieser Branche leider vor. Jetzt gerate ich allmählich in Panik. Das Semester fängt nächste Woche an, und sämtliche Lehrer hier in Bern sind ausgebucht.«
» Ich bin nicht qualifiziert als Lehrerin für Englisch als Fremdsprache«, sagte ich und ratterte dann eine Liste meiner Qualifikationen herunter, zählte die Sprachen auf, die ich gut beherrschte, und berichtete von meinen Erfahrungen als Unterrichtsassistentin an diversen Schulen und Colleges überall auf dem Kontinent.
Sylvia lachte nervös. » Verstehen Sie das nicht falsch«, sagte sie, » aber sind Sie nicht ein bisschen überqualifiziert für diese Stelle? Warum wollen Sie herkommen?« Ich brachte mein Fluchtbedürfnis zum Ausdruck, das Gefühl, ich würde mir demnächst die Haut vom Leibe reißen, wenn ich noch länger in London bleiben müsste, ohne die beiden wiederzusehen, aber ich tat es so behutsam, wie ich konnte.
» Ich habe Lust auf einen Tapetenwechsel.«
Sylvia würde mir den Flug und die Wohnungsmiete für den ersten Monat erstatten, wenn ich bis Semesteranfang bei ihr sein könnte. Das war zwar nicht der entscheidende Faktor, aber doch wichtig. Meine zu Beginn des Sommers noch beträchtlichen Ersparnisse waren auf ein paar Hundert Pfund zusammengeschrumpft, und wenn Sarah in zwei Wochen aus Frankreich zurückkäme, hätte ich bald keine Bleibe mehr.
Dreißig Stunden nach dem Gespräch mit Sylvia hatte ich den Inhalt meines Zimmers in den Kofferraum meines Wagens gepackt und nach Wembley zu einem Garagenkomplex gefahren, den ich auf der Fahrt zu Ninas Abschiedsparty vom Verkehrsstau aus gesehen hatte. Es war eher ein Schuppen als ein Garagengebäude, aber der Eigentümer wollte nicht wissen, wie ich hieß, und stellte auch sonst keine Frage, als ich die Miete für ein Jahr im Voraus bezahlte. Als ich ging, hatte ich nur noch meine Schlüssel und meine Travelcard für die U-Bahn. Zu feige für eine unbehagliche Unterredung, teilte ich meinen Eltern und Sarah brieflich mit, wohin ich gehen würde. Dann stopfte ich Kleider, die ich seit dem letzten Winter nicht mehr getragen hatte, in einen Rucksack und fuhr mit dem Zug nach Heathrow. In der
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