Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
Schlange vor dem Check-in für den Flug nach Zürich bemerkte ich ein paar welke Blätter, die zerrieben am Boden meines Rucksacks klebten– das erste äußere Zeichen dafür, dass der Sommer vorbei war.
Von einem Münztelefon im Abflugterminal aus rief ich die Nummer des alten Hauses an. Ich ließ es fünf Minuten lang klingeln. Niemand meldete sich.
Bern ist eine von Drähten durchzogene alte Stadt. Die gotischen und mittelalterlichen Gebäude sind durch Strom- und Telefonkabel miteinander verbunden, die sich kreuz und quer über den Leuten spannen, die unten auf den kopfsteingepflasterten Straßen unterwegs sind, und die Oberleitungen der Trambahn hängen wie dicke Lakritzschnüre über den Straßen. Nach ein paar Tagen bemerkt man das Netz über dem Himmel nicht mehr, aber am Anfang ist es durch seine Diskrepanz zu allem anderen eine Ablenkung.
Ich hatte drei Tage Zeit, mich in der Einzimmerwohnung einzurichten, die Sylvia mir beschafft hatte, und ich verbrachte sie damit, durch die Straßen zu spazieren und zu dem Gewirr der Drähte hinaufzuschauen, die sich umeinander flochten und sich gegenseitig genauso mühelos und elegant aus dem Weg gingen, wie die verschiedenen Sprachen– Französisch, Italienisch, Deutsch und Romanisch– nebeneinander in der Stadt existierten. Cafés und Bars besuchte ich nicht allein; ich wollte nicht unversehens wieder in meine alte, geliebte Gewohnheit verfallen, mich nach rechts wenden und Biba auf einen interessanten Passanten aufmerksam machen.
Im Ausland Englischunterricht zu geben, ist eine ideale Methode, sich mit Leuten zu umgeben, ohne dass man riskiert, allzu vertrauliche Beziehungen einzugehen. Es ist einfach ein Zusammenschluss von Schülern, die allesamt jung sind und darauf erpicht zu sprechen, zu trinken und einfach mit anderen zusammen zu sein. Die meinen kamen aus der ganzen Welt, entweder angelockt von der Bankenindustrie oder als Angestellte derer, die bereits Teil dieser Maschinerie waren. Sie kamen und gingen. Manche blieben lange genug, um ihr Englisch zu vervollkommnen, andere nahmen gerade so viel Unterricht, dass sie nach London fahren und als Kellnerinnen arbeiten konnten. Viele Schüler blieben irgendwann ohne Erklärung weg, aber es gab immer jemanden Neues, jede Woche brachte irgendeinen Geburtstag oder einen Abschied, und immer gab es einen Grund, nach dem Unterricht in eine Bar zu ziehen. In diesen extra-curricularen Trinksitzungen leistete ich unbezahlte Überstunden; ich hörte mir die Geschichten meiner Schüler an und wehrte ihre Fragen ab, indem ich ihre grammatischen Fehler korrigierte und sie ihre Anekdoten wiederholen ließ, bis ich zufrieden war. Selbst erzählte ich nichts. Ich hatte nur eine Geschichte, und die konnte ich niemandem anvertrauen.
Mir graute vor dem wöchentlichen Anruf bei meinen Eltern, bei dem ich ihnen versicherte, es gehe mir gut, während sie so taten, als wüssten sie nicht, dass ich log. Ich ließ meine natürliche dunkelblonde Haarfarbe wieder zurückkehren und nahm meine Zuflucht nicht in sportlicher Betätigung, sondern im Essen und wurde dick von Schokolade, von dem Gebäck, das die Schüler zum Unterricht mitbrachten, und den Riesenschüsseln Pasta mit Sahnesauce, die das Einzige waren, was ich mir in meinem winzigen Apartment zu kochen bereit war. Ich trank auch, ich trank literweise schäumendes Bier, ohne mich um die Konsequenzen zu kümmern. Das Mädchen, das ich im Sommer gewesen war, war bald nicht wiederzuerkennen. Ich verbarg meinen Körper unter immer formloseren Kleidern. Die Nachmittage wurden kürzer, und ich hüllte mich in den Winter wie in einen Schal, dankbar für die frühe Dunkelheit und die zusätzliche Anonymität, die sie mir gewährte.
Ich hatte keine Ahnung von der britischen Strafjustiz, aber ich nahm an, dass Rex bald vor Gericht gestellt werden musste. Hin und wieder ging ich in die Zentralbibliothek und blätterte dort in der Times, aber der Fall wurde nie erwähnt. Wenn ich dort war, rief ich immer meine E-Mails ab. Nur auf diesem Wege hätte Biba mich erreichen können, aber nichts kam. Ich wünschte jetzt, ich hätte ihr über die Schulter geschaut, als sie ihr Passwort eingab, denn dann könnte ich auf ihren Posteingang zugreifen und feststellen, ob sie mich einfach ignorierte oder ob die Mailbox unberührt war und sie die E-Mail-Adresse, die ich ihr eingerichtet hatte, niemals benutzte, wie sie es versprochen hatte. Emma und Caroline Alba hatten beide gemailt und sich besorgt
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