Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
der Gedanke, dass sie vielleicht wirklich dort sein könnte.
» Ja, wo denn sonst?«, sagt sie ungeduldig. » Ich dachte, ich komme mal vorbei.«
» Du willst vorbeikommen? Vorbeikommen?« Die Leiterbahnen, die meinen Kopf mit Körper und Mund verbinden, sind anscheinend umgelenkt worden, und es fällt mir nicht leicht, Worte zu artikulieren.
» Es ist ein Albtraum, hier ein Taxi zu kriegen«, sagt sie, und plötzlich wird mir das Ausmaß der Gefahr klar. Sie könnte in fünfzehn Minuten hier sein. Ich werfe einen Blick zur Treppe und male mir aus, wie ich Rex wachrüttle und ihm sage, dass seine Schwester lebt und in diesem County und auf dem Weg hierher ist. Oft habe ich sie vermisst und sie zurückgewünscht, ich habe von einem glücklichen Wiedersehen geträumt, aber das war nur Wunschdenken. Für den Fall, der jetzt eintritt, habe ich keinen Plan, und ich muss nachdenken, schneller und angestrengter nachdenken, als ich es seit Jahren habe tun müssen. Jetzt, da die Fantasie Wirklichkeit geworden ist, empfinde ich nichts als Panik. Ich habe vielleicht eine Viertelstunde Zeit, um die Worte zu finden, mit denen ich Biba sagen kann, dass ich die einzige Mutter bin, die Alice je gekannt hat. Mit Rex zusammen haben wir dann Zeit bis zum Morgen, um uns zu überlegen, wie wir Alice, die so gern eine größere Familie hätte, erklären können, dass Daddy eine lange verschwundene Schwester hat, die wir eigentlich nie erwähnen wollten. Es ist zu viel und geht zu schnell. Ich brauche Platz zum Denken, aber Biba plappert mir ins Ohr, und ihre Stimme knistert wegen der schlechten Verbindung.
» Warte mal, Schätzchen«, sagt sie. » Ich hab kein Kleingeld mehr. Ich hab seit Jahren keine Telefonzelle mehr benutzt, und das Ding frisst die Münzen. Fuck, zwanzig Pence…«
Die Leitung ist tot. Ich starre den Hörer an, und halb rechne ich damit, dass sie daraus hervorkommt, dass ihre physische Gestalt sich durch die Löcher in der Muschel quetscht wie eine Art Flaschengeist.
Mit ungeschickten Fingern wähle ich 1471, die Nummer der Anruferinformation. Und ausnahmsweise ist ihre Nummer nicht unterdrückt gewesen. Zu meiner Verblüffung höre ich eine Nummer aus dem Ortsnetz. Ich wähle die 3, und sie nimmt den Hörer ab, bevor ich ein Freizeichen höre.
» Hi!«, sagt sie munter.
» Wo bist du? Ich meine, wo genau?«, frage ich. » Ich hole dich ab.« Im Auto kann ich nachdenken, und auf dem Heimweg rede ich mit ihr.
» Keine Sorge, ich habe Geld.« Es ist das erste Mal, dass ich diese Worte von ihr höre, und mein Erstaunen ist wie eine Nachwehe des Schocks. » In der Taxischlange stehen nur noch zwei Leute vor mir. Ich weiß, wo du wohnst…«
» Woher?«, frage ich, aber die Verbindung ist wieder unterbrochen, und wo ihre Stimme war, ist ein Vakuum der Stille. Noch einmal wähle ich die Nummer und lasse es klingeln und klingeln, aber jetzt meldet sich niemand mehr. Ich muss bei ihr sein, bevor sie bei uns ist. Verzweifelt raffe ich meine Sachen zusammen und laufe zum Auto.
Sie steht noch vor dem Bahnhof. Ich würde ihre Gestalt überall erkennen, selbst unter so vielen Schichten von Kleidern, dass sie völlig formlos aussieht. Ein riesiges rotes Wolltuch umhüllt sie von Kopf bis Fuß, und zu ihren Füßen stehen zwei große Taschen, die darauf schließen lassen, dass sie die Absicht hat zu bleiben. Und sie sieht mich direkt an, als wüsste sie, mit welchem Auto ich komme. Ich merke, dass mir die Tränen kommen und mir die Kehle zuschnüren.
Unter dem roten Tuch trägt sie noch eins, ein violettes, um den Hals. Sie setzt sich auf den Beifahrersitz, und ich sehe, dass sie sich den Pony hat auswachsen lassen. Wann mag das passiert sein? Die unerbittliche Innenbeleuchtung strahlt sie von unten an, und erschrocken sehe ich, dass sie gealtert ist: Meine Erinnerungen haben eine Einundzwanzigjährige konserviert. Sie sieht älter aus als ich, älter sogar als Rex, dem sie ähnlicher denn je geworden ist. Die Konturen ihres Kiefers sind wieder fest, aber ihr Haar ist stumpf und ihre Haut verwittert. Nase und Wangen sind mit verblichenen Sommersprossen gesprenkelt, aber Falten von weißer, fleckenloser Haut um Nase und Mund und zwischen den Augen lassen vermuten, dass sie jahrelang in die Sonne geblinzelt hat. Sie ist immer noch hinreißend, aber jetzt hat sie eher das Gesicht für eine Charakterrolle, nicht das einer Hauptdarstellerin. Ihre scharf geschnittene Nase ist rosig und glänzend, und als sie die Lederhandschuhe
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