Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
auszieht und die Hände in den Schoß legt, sehe ich, dass ihre Finger dünn und unberingt sind. Als sie mich auf die Wange küsst, streifen ihre Wimpern meine Schläfe, und ihre Lippen sind kalt und trocken. » O mein Gott«, ist alles, was ich hervorbringe.
» Karen Clarke«, sagt sie. » Du siehst noch haargenau so aus wie früher. Freust du dich nicht, mich zu sehen?« Sie streift das oberste Tuch ab und breitet es über den Rücksitz. » Heiß hier drin, nicht?« Wir führen hier zwei verschiedene Gespräche. Ich versuche zusammenhängend zu sprechen und weiß nicht, wie ich zehn mühselige Jahre in eine zehnminütige Autofahrt pressen soll, und sie betreibt Small Talk.
» Wir dachten, du bist tot«, sage ich. » Du hast uns glauben lassen, du wärest tot.«
» Entschuldige.« Obwohl sie es anscheinend ernst meint, ist es ein so winziges, klägliches kleines Wort.
» Wie hast du uns gefunden?«
» Na ja, im Gefängnis haben sie mir gesagt, dass Rex draußen ist. Aber wo er hingegangen war, wollten sie mir nicht sagen. Da hab ich beim Queen Charlotte’s angerufen. Du hast vergessen, dich von der Kontaktliste des Graduiertenverbandes streichen zu lassen. Hör mal, können wir darüber nicht zu Hause sprechen?« Nicht » bei euch« oder von mir aus » bei euch zu Hause«, sondern » zu Hause«, als hätte ich die Einladung ausgesprochen, die sie für selbstverständlich hält. Mi casa, tu casa. Will sie bei uns einziehen? Wir zu viert in einem Cottage, das schon für drei zu klein ist? So lange habe ich mir nichts anderes gewünscht, als dass wir drei wieder zusammen sein könnten. Jetzt erfüllt mich der Gedanke mit Bestürzung, ja, mit Widerwillen.
» Warst du das, die immer angerufen und aufgelegt hat?«, fragte ich. » Warum hast du nie etwas gesagt?«
» Ich habe versucht, Rex zu erreichen«, sagt sie. » Lässt du ihn nie ans Telefon gehen?« Wider Willen bin ich gekränkt, dass sie mit mir nur ersatzweise gesprochen hat. » Sind wir bald da?«
» Ist nicht mehr weit«, sage ich und weiß, wir haben nicht annähernd genug Zeit, um alles zu sagen, was gesagt werden muss, selbst wenn ich auf einem Umweg nach Hause fahre. Mein Tempo ist jetzt sehr viel gleichmäßiger; ich habe sogar Zeit, die Kaninchen zu sehen, deren Augen im Licht meiner Scheinwerfer aufleuchten, und sie haben Zeit, zur Seite zu rennen. Biba gurrt begeistert etwas davon, wie hübsch es hier auf dem Land ist, und fängt an, mir zu erzählen, wie ich eigentlich glauben kann, ich könnte hier die Sterne sehen, und ich hätte keine Ahnung, wie sie in Marokko sind, wo es keine Lichtverschmutzung gibt und man immer noch Sternschnuppen sieht.
» Da bist du gewesen?«, frage ich. » In Marokko?«
» Unter anderem«, sagt sie. » Ich hab bei Nina und den Kindern gewohnt.«
» Weiß sie Bescheid?« Ich bin fassungslos. Nina ist keine konventionelle Mutter, aber sie beschützt ihre Kinder, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie eine Mörderin bei sich aufnimmt.
» Worüber? Dass mir der Kragen geplatzt ist?« Sie lacht kurz auf, weil der Euphemismus so unzureichend ist. » Oder dass ich Rex in der Scheiße hab sitzen lassen? Dass ich ein Kind gekriegt und verlassen habe? Dass ich dich verlassen habe?«
» Alles. Irgendwas.«
» Ich habe ihr die offizielle Geschichte erzählt. Sie glaubt, ich bin vor all dem weggelaufen.«
» Sie hat dir geglaubt? Nina kannte Rex. Sie weiß, dass er so etwas nie getan hätte.«
Biba zuckt unter dem Wolltuch die Achseln. » Weshalb sollte jemand so was erfinden?«
» Weiß sie, dass du hier bist?«
Mit leisem Seufzen vergräbt sie sich tiefer im Sitz. » Das weiß niemand.«
Beim Bahnübergang fahre ich gewohnheitsmäßig langsamer, obwohl der letzte Zug längst vorbei ist. Jetzt bin ich an der Reihe mit Reden; was sie an ihrem zehn Jahre dauernden verlorenen Wochenende getrieben hat, kann sie mir später erzählen. Jetzt müssen wir eine Möglichkeit finden, ihre Anwesenheit zu erklären, ohne Rex und Alice die Wahrheit zu offenbaren.
» Es wird knifflig werden, aber ich glaube, wir kriegen es hin«, sage ich. Bibas verblüffende Antwort ist das erste Anzeichen dafür, dass wir komplett aneinander vorbeireden.
» Nina hat noch ein Baby gekriegt. Ein kleines Mädchen. Oh, Karen, sie war so schön. Du hättest sie sehen sollen. Aber ich konnte nicht bei ihr bleiben. Sie… Die ganze Sache… hat so vieles in mir geweckt. Ich habe angefangen nachzudenken, Karen. Über das, was ich getan habe. Und
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