Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
sie zwanzig Schritte weit zu der runden Betongrube zu schleifen. Ich will ihr Gesicht nicht sehen.
Sie in das Loch zu stoßen, kommt mir gefühllos vor; also breite ich die Arme aus und lasse sie fallen. Sie landet bäuchlings auf dem nassen Beton, und das Klatschen des Aufpralls klingt eher trocken als feucht. Das alles ist sehr weit entfernt von dem glanzvollen Schweben in den Tod, das sie sich einmal ausgemalt hat.
Einen schrecklichen Augenblick lang befürchte ich, der Beton hat abgebunden oder ist gefroren, und ich werde jetzt in die Grube hinunterklettern und ihren Leichnam wieder herausziehen müssen. Aber dann plötzlich verschlingt der graue Brei die Gestalt, die alle viere von sich gestreckt darauf schwimmt, mit einem einzigen gierigen Schluck. Bilde ich es mir ein, oder ist ihr Haar noch ein paar Sekunden zu sehen, nachdem der Körper schon verschwunden ist? Dicke Strähnen, die sich zum Leben heraufstrecken und noch ein paar Sekunden Luft ergattern wollen? Ihre Taschen liegen geduldig auf dem Rücksitz des Wagens. Ich werfe sie hinter ihr her.
Ich knie am Rand nieder und spähe hinunter zu der glatten schlammigen Oberfläche. Die Wucht meines Erbrechens überrascht mich. Auf Händen und Knien kauere ich da, und mein Magen krampft sich wieder und wieder zusammen, bis die Muskeln rings um meinen Leib zu brennen anfangen und in meinem Innern nichts mehr ist.
EPILOG
W as war los mit dir letzte Nacht?«, fragt Rex mit einem Mund voll Cornflakes.
Alice sitzt im Wohnzimmer vor dem Kinderprogramm am Samstagmorgen. Eine Folge der Simpsons, die sie schon ein Dutzend Mal gesehen hat, läuft mit unangenehmer Lautstärke.
» Wie meinst du das?«
» Du hast dich hin und her geworfen. Es war, als hätte ich einen Aal im Bett.«
» Ich konnte nicht schlafen«, sage ich, und das stimmt. Wenn ich letzte Nacht überhaupt Schlaf gefunden habe, dann habe ich nichts davon gemerkt. Körperliches Behagen gab es nicht, und wenn ich die Augen schloss, sah ich nur die naheliegenden, schrecklichen Bilder. Kurz vor dem Morgengrauen überkam mich die furchtbare Angst, von jetzt an werde es immer so sein, nie wieder würde ich die Augen schließen können, und ich würde an Erschöpfung sterben. Jetzt, da ich wieder auf den Beinen bin, kommt mir das, was letzte Nacht passiert ist, notwendig, ja, vernünftig vor, und ich weiß, ich werde einen Weg finden, damit zu leben. Im Laufe der Jahre hatte ich ja auch gelernt, mich mit meiner Trauer einigermaßen bequem einzurichten. Die Ereignisse der letzten Nacht haben lediglich den Status quo wiederhergestellt und die Sicherheit meiner Familie gestärkt. Ich muss nur an die Bedrohung denken, die sie dargestellt hat. Sie tötet, sie verschwindet, sie überlässt es anderen, die Scherben aufzusammeln. Ich weiß, ich bin jetzt auch eine Mörderin, aber per definitionem war mein Verbrechen ein einmaliger Sonderfall. Ich bin das Gegenteil einer Bedrohung: Was ich getan habe, diente zum Schutz. Was macht es da, dass ich jetzt noch ein Geheimnis mehr habe?
» Du weißt, was du nötig hast«, sagt er. » Einen Spaziergang. Hol sie weg von diesem Fernseher. Puste die Spinnweben weg. Ich habe selbst das Gefühl, ich habe ein paar Spinnweben im Kopf. War ich gestern Abend betrunken?« Vielleicht ja. Ich habe ihm jedenfalls nicht geholfen, die Weinflasche leerzutrinken, die jetzt geduldig neben der Hintertür auf den Gang zum Glascontainer wartet.
Alice presst die Fernbedienung trotzig an die Brust, aber Rex geht einfach zum Fernseher und knipst ihn aus. Sie öffnet den Mund und will protestieren, aber er schneidet ihr das Wort ab. » Stiefel, Mantel, Ausgang«, befiehlt er mit verschränkten Armen, und sie gehorcht ohne Widerspruch. Ich bin beeindruckt.
» Das hier ist hübsch, Mummy«, sagt Alice. » Kann ich es anziehen?« Es blitzt scharlachrot, als sie an etwas zieht, das sich am Garderobenständer verheddert hat. Bibas Tuch. Ich muss es mit meiner eigenen Jacke dort aufgehängt haben, als ich letzte Nacht zurückgekommen bin. Ich reiße es ihr aus der Hand. Vielleicht hat es Taschen, und wer weiß, was in den Taschen ist?
» Du ziehst deinen Mantel an wie immer«, sage ich und wickle das Tuch um mich selbst und streiche es an mir glatt. Es hat keine Taschen, es ist nur eine riesige Bahn Wollstoff, lang genug, um mich dreimal darin einzuhüllen. Hoffentlich wird der Wind draußen ihren Geruch davontragen. Jetzt muss ich mit offenem Mund atmen.
» Woher hast du das?«, fragt Rex. » Ich
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