Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
Hörer. Dann hörte ich Bibas Stimme, und sie klang kühl und beruhigend wie ein Glas Wasser.
» Es tut mir so leid, dass er das getan hat«, sagte sie.
» Geht’s dir gut?«
» Was? Ja, es ist nur total peinlich. Fuck … Rex hat buchstäblich jeden angerufen, den ich kenne. Dass Nina weg will, war ein ziemlicher Schock, und ich hab mich ein bisschen… aufgeregt. Aber es ist alles in Ordnung. Hör mal, am Donnerstag geben wir ein Abschiedsessen für sie. Kommst du auch?«
Das war der Abend vor meiner Prüfung in deutscher Literatur, einer dreistündigen, kräftezehrenden Klausur, von der fünf Prozent meines Gesamtergebnisses abhängen würden. Ich sagte zu.
Als ich die Antenne in das Gehäuse des Telefons zurückgeschoben hatte, suchte ich immer noch einen Vorwand, mein Zimmer nicht zu verlassen, und die Digitaluhr auf meinem Nachttisch verschaffte mir einen: Die grünen Ziffern verrieten mir, dass es fünf nach acht war. Wenn ich meine Eltern jetzt anrief, würde das Gespräch säuberlich in die Pause zwischen zwei Soaps fallen, die werktags ihren Abend aufteilten. Ich tippte die gewohnte Nummer, und es folgte das gewohnte Durcheinander, als mein Vater das Telefon unten im Wohnzimmer in Besitz nahm, während meine Mutter in die Küche rannte, um über den Nebenanschluss mit mir zu sprechen. Manchmal fragte ich mich, ob dies– abgesehen von den Zeiten, die mein Vater auf der Arbeit verbrachte– vielleicht das einzige Mal war, dass sie sich in verschiedenen Zimmern aufhielten.
» Ich werde diesen Sommer in London verbringen«, erzählte ich ihnen. » Man hat mich gebeten, als Tutorin im Sprachendepartment zu arbeiten.« Keiner von beiden kam auf den Gedanken, dass im Sommer keine Studenten da waren, die ein Tutorium besuchen könnten. Es war das erste Mal, dass ich ihre absolute Unkenntnis des Hochschulsystems und der Semesterzeiten ausgenutzt hatte, aber mein schlechtes Gewissen fand ein wenig Linderung in einer Art Ungeduld angesichts dessen, dass sie sich so leicht über den Tisch ziehen ließen. » Tutorin«, sagte meine Mutter. » Meine Tochter ist eine Dozentin! Gut gemacht, Schatz. Das ist wirklich erstaunlich.« Das Klingeln eines Küchentimers zwang sie, das Gespräch zu beenden, und ich war allein mit meinem Vater.
» Karen, mein Kind, ich mache mir Sorgen um dich«, sagte er mit der sanften Stimme, die nur meine Mutter und ich je hörten.
» Mir geht’s gut. Ich hab massig zu tun.«
» Das ist ja das Problem. Du arbeitest die ganze Zeit. Du weißt, deine Mutter und ich sind sehr stolz auf dich, und du brauchst nicht noch härter zu arbeiten. Wenn du Geld brauchst, kannst du uns jederzeit fragen. Du hättest diesen Sommer doch freinehmen können, um dich zu entspannen und etwas für dich selbst zu tun.«
Die Tatsache, dass ich genau das vorhatte, verschärfte meine Gewissensbisse wieder.
» Bald stehst du draußen in der Welt der Arbeit, und dann wirst du nie wieder so lange Ferien haben.« Er räusperte sich. » Du bist erst zwanzig, Kind. Du trägst einen alten Kopf auf jungen Schultern; das war immer schon so, aber sei ein bisschen nachsichtig mit dir. Jeder junge Mensch sollte einen Sommer haben, auf den er für den Rest seines Lebens zurückschauen kann. Verliebe dich. Such dir ein paar Bands, geh auf die Festivals.« Ich ließ mich bäuchlings auf das Bett fallen und wappnete mich gegen eine von Dads Predigten über den Sommer ’75, den letzten Sommer seiner Freiheit, bevor die Schwangerschaft meiner Mutter sein Leben für immer verändert hatte. Aber er hörte mich seufzen und überlegte es sich anders. » Ich will nur sagen: Mit der Arbeit hat es keine Eile. Sogar deine Mum und ich hatten einen langen, heißen Sommer.«
Ich versuchte, mir meine Eltern vorzustellen– jung, verrückt vor Liebe, wie sie in verdreckten Häusern tanzten, seltsame Pillen von seltsamen Typen schluckten, flau und schwindlig vor Aufregung, weil sie mitten auf der Schwelle zu einer neuen Welt standen. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass ihre Gefühle und Erfahrungen so tief und so bunt wie meine gewesen sein sollten. Sie waren nur meine Eltern– ein junges Paar, so alt wie ich jetzt, aber mit einem Baby, das unterwegs war, mit einer Hypothek und einem Leben voller Arbeit und Soaps, das sich vor ihnen erstreckte. Mr. und Mrs. Jedermann. Leute von nirgendwo.
Das weiße Auto steht zum dritten Mal in dieser Woche vor dem Haus. Bevor Rex nach Hause kam, habe ich es nie gesehen, und das bilde ich mir
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