Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
mit ihrem Essen spielt, wenn etwas ihr ernste Sorgen bereitet.
» Von meinen Freunden?«, wiederholt Rex, als spreche er ein neues Wort in einer fremden Sprache zum ersten Mal aus.
» Ja. Hast du Freunde gefunden? Wie in Die Verurteilten ?«
» Wo hast du den gesehen?«, fahre ich sie an. Sogar meine Eltern, die bei den meisten meiner Regeln ein Auge zudrücken, wenn Alice bei ihnen ist, überwachen sorgfältig, was sie sich ansehen darf.
» Bei Sophie«, sagt Alice. » Sie hat einen Fernsehapparat mit einem eingebauten DVD -Spieler in ihrem Zimmer. Und sie hat Ohrlöcher.«
» Ich habe eigentlich keine Freunde gefunden, nein«, sagt Rex. » Jedenfalls keine, die ich wiedersehen werde.«
Alice wird plötzlich ernst.
» Was ist mit Feinden?«, fragt sie. » Hast du Feinde, die hinter dir her sind?« Ihre Stimme klingt plötzlich wacklig, und ihre Nasenspitze ist rosarot geworden, was immer ein Zeichen dafür ist, dass sie mit den Tränen kämpft. Stirnrunzelnd schaut sie auf ihr Essen. Sie hat ihre Baked Beans am Rand des Tellers aufgereiht, und es sieht aus, als schwimme die Plastikhalskette eines Kindes in der Soße.
» Warum fragst du?« Ich achte darauf, dass mein Ton nicht so schneidend klingt, wie meine Panik sich anfühlt. » Hat jemand etwas gesagt? Hast du etwas gesehen? Erzähl’s mir.« Alice schüttelt den Kopf und sieht Rex hilfesuchend an.
» Niemand ist hinter uns her«, sagt er. » Und niemand hat es auf mich abgesehen. Ich bin jetzt zu Hause. Es ist vorbei.«
» Ehrenwort?«
» Ehrenwort.«
Eine Garantie von Rex genügt ihr. Sie isst ihren Teller leer und klaut dann ein Würstchen von meinem. Ich habe keinen Appetit mehr.
Nachher mache ich den Abwasch, und Rex liest Alice eine Geschichte vor. Vor seiner Heimkehr hatten wir die abendliche Routine des Bettaufschlagens und Zudeckens, der Märchenbücher und Nachttischlampen längst aufgegeben, aber die beiden scheinen in diesem Ritual für kleine Kinder echten Trost zu finden. Über dem Rauschen des Wasserhahns höre ich nicht, dass er leise hinter mir herankommt, und als sein Arm sich um meine Taille legt, schrecke ich zusammen. Das Weinglas in seiner anderen Hand fliegt ihm ins Gesicht, und als ich mich umdrehe, tropft ihm der Pinot Grigio von den Wimpern.
» Hey«, sagt er und wischt sich mit einem Geschirrtuch das Gesicht ab, » das war nur ein Glas Wein.«
» Entschuldige.« Ich bin starr vor Anspannung.
» Was ist mit dir passiert, Karen?« Seine Hände biegen meine Finger auf. » Du warst immer so ruhig und entspannt, und jetzt zuckst du bei jedem Vorhangwehen zusammen, fauchst Alice an, springst hoch, wenn das Telefon klingelt…«
Meine Antwort besteht aus einem unzureichenden, defensiven Achselzucken.
» Ich mache mir Vorwürfe«, sagt er. Er zieht mich an sich, und ich atme den Wein ein, der seinen Pulli durchtränkt hat. » Ich habe dir das angetan. Aber ich kann jetzt alles wiedergutmachen. Ich bin zu Hause, ich bin draußen. Begreifst du das nicht? Es ist vorbei.«
Für ihn, vorläufig, vielleicht.
» Ich weiß, was für ein Glück ich habe«, sagt er und zieht mich noch näher an sich heran. » Niemals, niemals werdet ihr, du und Alice, für mich selbstverständlich sein. Ich werde mir einen Job suchen und euch lieben und beschützen. Lass mich diese Bürde auf mich nehmen.«
Meine Gereiztheit nimmt zu. Ist ihm klar, wie schwer es sein wird, mit seinem Hintergrund irgendeinen Job zu finden? Er könnte uns nicht beschützen, selbst wenn er dazu fähig wäre, denn dazu müsste er mit sämtlichen Tatsachen bewaffnet sein, und ich kann ihm niemals alles erzählen. Ich habe nichts dagegen, die Beschützerin der Familie zu sein, solange ich diese Aufgabe allein und ohne Einmischung von ihm übernehmen kann. Sein Brustkorb weitet sich, und ich nehme an, er holt Luft zu einer weiteren Rede. Ich will sie nicht hören, ich bin nicht in der Stimmung für seine unnützen Worte. Ich will nur etwas trinken. Ich reiße mich aus seiner Umarmung und weiß, dass ihm das wehtun wird, aber ich gieße mir trotzdem noch ein Glas ein, ohne mich von der Spüle abzuwenden. Als der Wein in meine Adern dringt, wird es unmöglich, meine schlimmsten Befürchtungen nicht auszusprechen, und sei es nur vor mir selbst. Das Urteil über Rex ist gesprochen, öffentlich. Mein eigener Schuldspruch ist privat, und das Urteil kenne nur ich. Oder doch nicht? Was ist, wenn all meinen Bemühungen in den letzten zehn Jahren zum Trotz jemand alles
Weitere Kostenlose Bücher