Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
wenn man wirklich will«, sagt Ben. » Aber zu verschwinden, ist viel einfacher, als es sein sollte. Ich verliere Unmengen von Fällen.« Er zieht ein Blatt aus seinem gekräuselten Papierstapel und überfliegt es mit schmalen Augen. » Im Gefängnis war er als Capel bekannt. Die Namensänderung dürfte also dazu beitragen, die … äh … Wölfe fernzuhalten.« Die ungeschickte Redewendung macht ihn verlegen, und er schlurft hinaus zu seinem Wagen, ohne sich richtig zu verabschieden.
Wir stehen am Fenster und sehen ihm nach, als er wegfährt. Sogar seine Fahrweise wirkt nervös und zögerlich; drei- oder viermal schaut er in alle seine Rückspiegel, bevor er den Blinker einschaltet und langsam losfährt.
» Es sieht nicht gut aus, was?«, murmelt Rex in die Falte an meinem Hals, und so habe ich seine Stimme seit Jahren nicht mehr gehört. Er klingt verwundbar. Sein Optimismus seit der Entlassung war fadenscheinig, und es war nicht viel nötig, um ihn ganz zu zerstören. » Was fange ich jetzt an, Karen? Was fange ich mit dem Rest meines Lebens an? Wer wird mir einen Job geben?« Sein heißer Seufzer kondensiert feucht an meiner Haut. » Ich will doch für euch beide sorgen. Ein großes Haus, all das…«
» Es eilt ja nicht. Dieses Haus ist vorläufig groß genug. Und drei Leute können genauso billig leben wie zwei. Ich verdiene genug.«
» Und nimmst mir jeden Tag übel, dass ich nicht arbeite und du doch? Nein, danke.« Er hat meine eigenen Befürchtungen ausgesprochen und sie damit verringert. » Entschuldige. Ich will nicht undankbar klingen. Es ist nur so, dass ich die Entlassung aus dem Gefängnis als das Ende eines Prozesses gesehen habe, und tatsächlich ist es nur der Anfang eines ganz neuen Kampfes. Ich weiß nicht, ob ich dem gewachsen bin.«
» Natürlich bist du das«, beruhige ich ihn. » Wir haben Schlimmeres durchgemacht.«
» Das kann man wohl sagen.« Er löst sich von mir. » Lass uns von etwas anderem reden. Ob der Tee noch heiß ist? Was meinst du?«
Während Rex seine Tasse holt, ziehe ich die Vorhänge zu und werfe noch einmal einen Blick auf die Straße, bevor ich das Haus für die Nacht verschließe. Beinahe schicksalsergeben sehe ich das weiße Auto. Der Fahrer sitzt am Steuer und hat das Gesicht unserem Haus zugewandt, aber seine Züge liegen unsichtbar im Dunkeln. Ich weiß nicht, ob es ein Zufall ist, aber ich habe bemerkt, dass die anonymen, stummen Anrufe niemals kommen, wenn das weiße Auto draußen parkt.
Ihren großspurigen Ankündigungen zum Trotz wurde Biba niemals eine große Schauspielerin, auf die ihr Vater stolz war. Am Ende lenkten Roger Capels älteste Kinder die Aufmerksamkeit in einer Weise auf ihn, die er niemals hätte voraussagen können. Ich frage mich, ob er die Szene in seinem Vorgarten genauso oft wie ich an sich vorüberziehen lässt. Ich hoffe, er wünscht dann, er hätte sie anders gespielt.
Oft male ich mir in meinen Tagträumen die Karriere aus, die sie hätte haben können. Ich glaube, sie hätte sich für das Leben einer aufgekratzten Londoner Schauspielerin geeignet; sie hätte weiter in Highgate gewohnt und wäre jeden Abend ins West End verschwunden, um dort ihr Gewerbe auszuüben und ihr Publikum zu begeistern. Hin und wieder hätte sie eine Rolle in einem Kostümfilm oder einem Werbespot angenommen, und wenn wir dann über die Straße gegangen wären, hätten die Leute einander angestoßen und sich zugeflüstert, da sei doch das Mädchen aus dem Fernsehen. Sie hätte ein erfolgreiches und erfülltes Leben gehabt, aber einen Starruhm, der sie mir genommen hätte, hätte sie wohl nicht erreicht. Gelegentlich frage ich mich, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie eine Hollywoodkarriere gemacht hatte– wenn ihr Gesicht aus all den richtigen Gründen in der Presse erschienen wäre, auf Illustriertentiteln, und wenn der Name Biba Capel auf den Flanken der Londoner Busse geprangt hätte. Dieser Tagtraum ist weniger behaglich, und ich hänge ihm seltener nach: In dieser alternativen Realität ist kein Platz für mich, außer über Rex.
Die erste Kostprobe dessen, wie das Leben mit Biba als berufstätiger Schauspielerin sein würde, bekam ich in der Woche vor ihrem Examensauftritt. Die Vorbereitungen auf ihre Rolle in Wie du mich wünschst waren ein Drama für sich: Sie ging auf und ab, rezitierte, knallte mit den Türen und führte bis tief in die Nacht hinein qualvolle, biestige Telefonate mit Rachael über den Regisseur und andere Mitglieder des
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