Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
Ensembles. Ich sehnte mich danach, Bibas Vertraute zu sein, aber als ich versuchte, sie zu fragen, wie es ging, antwortete sie mir, das würde ich nicht verstehen: Darüber müsse sie mit einer anderen Schauspielerin sprechen.
Das Theater hatte ich mir als luxuriösen Saal im West End vorgestellt, mit Rampenlicht und Vergoldungen und mit Operngläsern, die in ihren Fächern an den Rückenlehnen rotsamtener Sitze steckten. Ein genauerer Blick auf die Adresse hätte solche Gedanken gleich zur Strecke gebracht. Es lag auf der falschen Seite der Marylebone Road, abseits von Lisson Grove: ein flaches, viereckiges Gebäude mit zwei unansehnlichen Brandschutztüren in der Vorderfront, bewacht von den finster blickenden Fenstern eines Hochhauses mit Sozialwohnungen. Im Innern war es unerwartet geräumig, aber das war auch schon alles, was man zu seinen Gunsten sagen konnte. Die Wände bestanden aus unverputzten Porenbetonsteinen, von denen sich Schichten von Flyern längst vergessener Aufführungen abschälten. Die Bühnendekoration, wenn man es so nennen konnte, bestand aus verrückten glasierten Tonformen, die an einem Hintergrund aus Sackleinen hingen. Hier und da waren Fäden im Sackleinen gerissen wir an einem alten Tennisschläger. Ich fragte mich, ob dieser hässliche Raum vielleicht so lange unrenoviert bleiben würde, dass er irgendwann wieder modisch wäre. Ich begriff nicht, warum jemand ein solches Theater baute, wenn die traditionelle Sorte doch so viel aufregender und angemessener war. Biba hätte mir sicher entgegengehalten, Shakespeares, Ibsens oder wessen Sprache auch immer sei so machtvoll, dass es auf den Aufführungsort nicht ankam.
In der Bar wimmelte es von Eltern, deren förmliche Kleidung nicht zum heißen Wetter passte. Väter schwitzten in schweren Anzügen, und Mütter fächelten sich ihre hinwelkenden Frisuren mit dem Programm aus den Augen. Das Geplauder hatten großenteils Leute meines eigenen Alters übernommen, Theaterstudenten oder ihre Freunde. Ich kannte niemanden und wünschte mir plötzlich verzweifelt jemanden, mit dem ich mich unterhalten könnte. Sogar Rex hätte mir genügt. Aber er hatte meinen Wagen weggefahren und verspätete sich; wahrscheinlich fand er keinen Parkplatz.
Von dem warmen Weißwein, den sie ausschenkten, bekam ich sofort Kopfschmerzen. Mir war körperlich schlecht bei dem Gedanken daran, Biba auftreten zu sehen. Ich würde sie gleich in ihre andere Welt entlassen, in die Welt, die sie mir tagsüber entführte, wenn sie zu den Proben ging, und die sie mir bald auch abends wegnehmen würde, wenn sie erfolgreich wäre. Wie Rex empfand ich Bibas Arbeit als eine unangreifbare, fast wie durch eine Nabelschnur mit ihr verbundene Rivalin, mit der ich niemals konkurrieren konnte. Und noch ein Zweifel kratzte in meinem Hinterkopf wie ein Hustenreiz, den ich nicht herunterschlucken konnte. Was, wenn sie furchtbar wäre? Was wäre, wenn der Respekt und die Bewunderung, auf der unsere Freundschaft beruhte, in sich zusammenbräche, weil ich eine schlechte Vorstellung zu sehen bekam? Hoffentlich würde ich dann immer noch ihr künstlerisches Temperament bewundern oder zumindest tolerieren können, selbst ohne die Rechtfertigung durch ein großes Talent.
Das Hupsignal, das die Öffnung des Zuschauerraums ankündigte, klang eher wie ein Fliegeralarm, nicht wie die Einladung zu einem Theaterstück. Ich schrak zusammen und stieß den Mann hinter mir mit dem Ellenbogen an. Als ich mich umdrehte, um mich zu entschuldigen, sah ich, dass es Rex war, der schweigend hinter mir stand.
» Wie lange bist du schon hier?«
» Buchstäblich gerade gekommen«, sagte er. » Keine Sorge, ich lauere nicht schon seit fünf Minuten hinter dir oder so was.« Jetzt war ich überzeugt, dass er genau das getan hatte. Er hatte sich die Haare schneiden lassen, die Locken, die seinen Nacken ausgefüllt hatten, waren weg, und das Haar war hinten und an den Seiten so kurz, dass die Tolle über der Stirn stolz aufragte. Er trug einen alten Anzug mit einem Ein-Knopf-Jackett, das seiner dürren Gestalt schmeichelte, statt sie lächerlich aussehen zu lassen, und darunter hatte er ein verblichenes Rolling-Stones-T-Shirt angezogen. Es war ein Look, der bei jedem anderen bemüht, ja, prätentiös ausgesehen hätte. Aber ich wusste, dass es der einzige Anzug war, den Rex besaß, und das T-Shirt hatte er schon am Morgen angehabt, und er wäre nie auf die Idee gekommen, sich umzuziehen. Das Resultat war eine echte
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