Das giftige Herz
gegeben«, sagte das Mädchen. »Er ist unser Häuptling.«
»Weil ich der Älteste bin«, sagte Keiner.
»Wo kommst du her?«, fragte Pistoux.
Keiner zuckte mit den Schultern. »Aus einem kleinen Ort. Meine Eltern haben mich in eine Klosterschule geschickt. Dort wurde ich jeden Tag verprügelt, bis ich weggelaufen bin.«
»Und du?«, fragte Pistoux das Mädchen.
»Sie haben mich einfach vergessen. Wir haben immer gehungert zu Hause, obwohl mein Vater und meine Mutter in die Fabrik gegangen sind. Aber dann wollten sie in eine andere Stadt und haben mich zurückgelassen. Als ich nichts mehr zu essen hatte, bin ich losgegangen, um etwas zu stehlen, und da habe ich die anderen getroffen.«
»Wir sind jetzt ihre Familie«, sagte Keiner.
»Guck mal«, sagte das Mädchen und hielt etwas in die Höhe.
»Was ist das?«
Sie lächelte wissend. »Unser Talisman. Eine Hasenpfote. Jeder von uns hat so eine.«
Ihre kleine Hand verschwand wieder unter der Decke.
»Und was ist mit dir?«, wandte Pistoux sich an Schwarz.
»Ich komme aus dem Waisenhaus. Ich wollte meine Mutter finden. Als ich zu ihr kam, hat sie mich wieder fortgeschickt. Der Mann, der bei ihr war, wollte mich auch nicht.«
»Und die anderen beiden?«
»Staub konnte nicht sprechen, er war stumm. Er hat uns nicht sagen können, wo er herkam. Er war eines Tages plötzlich da und ist mit uns mitgekommen. Dann hat er den vergifteten Lebkuchen gegessen und ist gestorben.«
»Und Niemand? Was ist mit ihm? Warum ist er so plötzlich verschwunden?«
»Du kannst ihn ja fragen, wenn du uns geholfen hast, ihn zu befreien«, sagte Keiner.
»Ich soll euch helfen?«
»Ja, deswegen haben wir dich geholt.«
»Aber …«
»Wir kommen dort nicht hinein. Wir brauchen einen Erwachsenen.«
»Er hat nämlich Angst vor uns«, sagte Schwarz.
»Wo wollt ihr denn hinein? Und wer hat Angst? Ich verstehe kein Wort.«
»Der Mörder!«, rief das Mädchen. »Er hat Niemand gefangen.«
»Der Mörder?«
»Der Mann, der Staub vergiftet hat!«, rief Schwarz.
»Welcher Mann denn?«
»Der Gewürzhändler, der auf dem Henkersteg wohnt«, sagte Keiner.
»Den kenne ich nicht.«
»Aber wir kennen ihn, und er kennt uns.«
»Der Gewürzhändler ist der Mörder, den die ganze Stadt sucht?«
»Die ganze Stadt sucht ihn gar nicht. Es ist nur ein Polizist.«
»Aber alle sprechen davon.«
»Sie sprechen von dem toten Ratsherren«, sagte Keiner empört. »Für einen toten Straßenjungen interessiert sich niemand.«
»Es heißt, der Ratsherr sei auch vergiftet worden.«
»Ja«, sagte Keiner. »Auch das war der Gewürzhändler!«
»Woher wisst ihr das?«
»Wir haben gesehen, wie er den Toten zum Stadtgraben gebracht hat.«
»In den Stadtgraben? Ich dachte, er sei am Henkersteg gefunden worden.«
»Jemand hat die Leiche wieder zum Mörder zurückgebracht.«
»Wer denn?«
Keiner zuckte mit den Schultern.
»Und Niemand weiß das alles auch?«
»Ja, und deshalb wird der Gewürzhändler ihn auch töten, wenn wir ihn nicht befreien.«
Pistoux versuchte, irgendeinen Sinn in diese Behauptungen zu bringen. Warum sollte ein Gewürzhändler einen Straßenjungen vergiften und außerdem einen Ratsherrn?
»Ich verstehe das alles nicht«, sagte er. »Warum diese Morde? Wie hängt das alles zusammen?«
»Du musst uns erst helfen, dann wirst du es schon verstehen«, sagte Keiner und sah Pistoux listig an: »Dein Freund, der Bäcker, wird jedenfalls wieder aus dem Gefängnis kommen, wenn du den wahren Mörder der Polizei übergeben hast.«
Pistoux zögerte.
»Wir müssen Niemand retten!«, rief das Mädchen.
»Heute Nacht noch«, sagte Keiner.
Pistoux seufzte. »Ihr lasst mir keine Wahl.«
»Wir haben auch keine Wahl«, sagte Keiner.
»Aber wenn das stimmt, was ihr sagt, dann ist der Mann sehr gefährlich.«
»Wir haben noch etwas für dich.« Keiner stand auf und ging in eine dunkle Ecke, wo er sich auf dem Boden zu schaffen machte. Er löste einige Steine am Fußende der Mauer und fasste in ein so entstandenes Loch. Dann zog er einen Gegenstand hervor und hielt ihn in die Höhe.
»Ein Revolver!«, stellte Pistoux fest. »Wo habt ihr denn den her?«
»Wir haben ihn in unserer Hütte im Wald gefunden.«
Keiner gab Pistoux die Waffe. Der klappte die Trommel heraus und schüttelte den Kopf. »Keine Patronen.«
»Patronen?«
»Wie soll ich ohne Patronen schießen?«
Die Kinder sahen sich ratlos an.
»Dann schießt du eben nicht«, entschied Keiner. »Du musst ihn ja nur bedrohen.
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