Das gläserne Paradies
zu kommen. Als er sie wieder freigab, um sich ein Glas Wasser einzuschenken, nahm sie sich erneut den Brief vor.
»Viel schreibt er ja nicht, dein Herr Täuber«, sagte sie schlieÃlich. »Kein Wort darüber, in welchem Rahmen die Ausstellung stattfinden und wie lange sie dauern soll, ob du der einzige ausstellende Künstler bist â¦Â«
Richard runzelte die Stirn. »Natürlich werde ich der einzige Künstler sein! Oder liest du hier etwas von anderen Glasbläsern?« Er nahm Wanda den Brief wieder aus der Hand.
»Ich meine ja nur.« Wanda streckte ihre Arme in die Höhe und dehnte sich wie eine Katze. Als ein Knochen in ihrem Genick knackte, schrie sie leise auf. Ach, wenn sie nur nicht so erschöpft wäre! Sie versuchte, ein neuerliches Gähnen zu unterdrücken.
»So eine Ausstellung kann einen Künstler wirklich berühmt machen«, sagte sie und freute sich an Richards begierigem Blick. »Du wirst gefeiert werden wie ein Star! Als Marie uns in New York besucht hat, waren wir auch bei einer Glasausstellung. Damals haben jedoch zwei Künstler gemeinsam ausgestellt. Wenn ich mich richtig erinnere, kamen die sogar direkt aus Venedig! Was war das für ein Farbenspiel! Da gab es Schalen und Gläser, die aus Tausenden von kleinen Blumen zusammengesetzt waren. Kunstwerke waren das, du hättest deine reine Freude daran gehabt!«
Richard prustete geringschätzig. »Millefiori â Gläser mit dieser Technik werden heutzutage jedem Italienreisenden für ein paar Groschen angedreht. Das hat doch nichts mehr mit wahrer Glaskunst zu tun. Aber du hast recht â¦Â« Mit seiner linken Hand zupfte er sich am Ohr, eine Geste, die Wanda wohl kannte. Das tat er immer, wenn er unsicher war.
»Vielleicht sollte ich Täuber besuchen, um mehr zu erfahren. Er schreibt ja nicht einmal, wie viele Stücke die Ausstellung umfassen soll.«
»Oder ob womöglich Kosten deinerseits damit verbunden sind«, fügte Wanda hinzu. »Wenn du willst ⦠Wir könnten ja zusammen nach Sonneberg fahren.« Ein Ausflug in die Stadt â genau danach stand ihr der Sinn. DieMüdigkeit, die sie seit dem Aufstehen verspürt hatte, war plötzlich wie weggeblasen.
»Ich könnte ein paar Dinge für Sylvie besorgen und â«
»Wanda, Liebes!« unterbrach Richard sie. »Das wird doch keine Einkaufsfahrt! Heute fahre ich lieber allein. Um so schneller bin ich wieder zurück und kann mich an die Arbeit machen!«
»Aber wir könnten doch das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden«, erwiderte Wanda stirnrunzelnd.
Richard, der schon seine Jacke überzog, schüttelte nur den Kopf. »Ein anderes Mal gern, aber wenn ich jetzt mit dir zum Bahnhof laufe, werden wir bestimmt wieder von zehn Leuten in ein Gespräch verwickelt. Das kostet nur Zeit. Und ehrlich gesagt will ich das Gejammer wegen der Gründler-Hütte heute nicht hören!«
Ein letzter nachlässiger Kuà auf Wandas Wange, und weg war er.
Deprimiert machte sich Wanda auf den Nachhauseweg. Es hatte aufgehört zu regnen. Schon wühlten die ersten Vögel wieder in der feuchten Erde nach Würmern. Der Himmel sah marmoriert aus wie ein in Essig eingelegtes Ei, und die Konturen der Nadelbäume auf den umliegenden Hängen waren so scharf, als hätte sie ein sorgfältiger Künstler mit der Nadel gestochen.
Aus dem Augenwinkel heraus sah Wanda, wie Fenster geöffnet wurden und Türen aufgingen â die kurze Atempause, die der Regen Lauscha und seiner Geschäftigkeit verschafft hatte, war vorbei.
Sie hatte das Haus ihres Vaters fast erreicht, als ihr Jockel entgegenkam. »Jeder Tag hat seine Plage«, murmelte sie leise vor sich hin.
Jockel war ein Freund von Richard und arbeitete alsGlasbläser in der Gründler-Hütte. Sein Gesicht erzählte von zuwenig Schlaf und zuviel Schnaps. Als er Wanda begrüÃte, wehte ihr eine leichte Fahne entgegen. Jockel war einer der wenigen Glasbläser, die Wanda nicht mochte. Er war nur ein paar Jahre älter als Richard, hatte aber das griesgrämige Gehabe eines alten Mannes an sich. Ein normales Gespräch mit ihm war selten möglich, meist schimpfte er über alles und jeden, und dabei hatten es ihm die »Weibsbilder« besonders angetan. »Wer dumm genug ist zu heiraten, der hat kein Mitleid verdient!« war eine seiner Stammtischreden, die er nur
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