Das gläserne Paradies
sehr blaà wirken. Sah er aus wie ein Stubenhocker? Wie jemand, der nirgendwo eingeladen wurde? Der tagsüber in seiner Schreibstube und abends mutterseelenallein in seiner Kammer sa�
Stirnrunzelnd starrte David auf sein Hemd und beruhigte sich wieder. Es war reinweiÃ, der Kragen ein biÃchen zu steif, dafür fast ohne Falten â ja, langsam bekam er Ãbung mit dem Eisen.
Schmunzelnd dachte er an das Gesicht, das seine Wirtin gemacht hatte, als er sie zum ersten Mal nach heiÃer Kohle für sein Bügeleisen gefragt hatte. Daà ein Mann seine Hemden und Anzüge selbst bügelte, war ihr anscheinend noch nie untergekommen. Wer soll es denn sonstmachen? hätte er sie am liebsten gefragt. Sein Geld reichte nicht, um die Wäsche auÃer Haus zu geben. Und zu Hause â weder seine Mutter noch seine Schwestern wuÃten, wie mit solch guten Stoffen umzugehen war. Bestimmt hätten sie den feinen Anzugzwirn gleich beim ersten Versuch versengt! Also stand er abends selbst in seinem Mansardenzimmer und bügelte. War nicht der erste Eindruck entscheidend? Wie sollten die Geschäftsleute dieser Welt ihn ernst nehmen, wenn er wie ein Bettler daherkam? Nein, er konnte mit seinem Aussehen recht zufrieden sein. Er wirkte reif, erwachsen und sehr geschäftsmäÃig.
Macht war ein leises Tier. Und gut angezogen.
Und deshalb war es wichtig, eine gute Erscheinung abzugeben, selbst wenn wieder einmal nur ein kleiner Handwerker vor der Tür stand und darauf wartete, ihm seine desolate Lage zu schildern und um ein Darlehen zu betteln.
Guck nicht hin, konzentriere dich auf die Arbeit, sagte sich David stumm, während er wieder zu seinem Schreibtisch ging. Dennoch fiel sein Blick auf den Stapel Zeitungen, die er vor Arbeitsbeginn gekauft hatte, und schon griff er nach dem zuoberst liegenden Blatt, um die Schlagzeilen zu überfliegen. Am liebsten hätte er sich gleich in die Lektüre vertieft, aber das muÃte warten.
Wie so vieles andere auch. Verflixt!
Warum konnte nicht einmal jemand kommen, ihm ein Vermögen auf den Tisch knallen und zu ihm sagen: »Bitte schön! Machen Sie was draus!« Aktien, Wechselanleihen, Devisengeschäfte â oh, er wüÃte schon, wie er das Geld vermehren würde! Nicht umsonst wühlte er sich durch Berge von Zeitungen und Anzeigeblättern, ja, sogar die eine oder andere Damenzeitschrift war darunter! Dieversuchte er unter all den anderen Blättern zu verstecken. Aber immerhin hatte er bei der Lektüre gelernt, daà es in Amerika groÃe Firmen gab, die mit der Herstellung von Lippenstiften, Wangenrot und Gesichtscremes ein Vermögen verdienten. Diese galt es im Auge zu behalten â womöglich würde eine davon an die Börse gehen? Mit der Eitelkeit der Frauen war zum richtigen Zeitpunkt bestimmt gutes Geld zu verdienen! Aus solchen Ãberlegungen heraus investierte er einen nicht unerheblichen Teil seines Gehaltes in Publikationen, die er allwöchentlich im Laden von Alois Sawatzky abholte. Als er den Buchhändler gefragt hatte, ob dieser bereit wäre, für ihn auch auÃergewöhnliche Blätter zu ordern, waren sie ins Gespräch gekommen. Nachdem Sawatzky erfahren hatte, daà David sich mittels der Zeitschriften weiterbilden wollte, Informationen sammelte über Firmen, Wirtschaftszweige, politische Entwicklungen und so weiter, bot der Buchhändler an, ihm ältere Ausgaben zum halben Preis zu besorgen. David hatte dankend angenommen.
O ja, er hatte sein Ohr am Puls der Zeit! Er wuÃte, wo in der Welt man welches Geld verdienen konnte. Er kannte sich aus. Und irgendwann würde das auch der Bankdirektor erkennen. Natürlich war seine Aufgabe â das Prüfen von Kreditanfragen â ehrenvoll. Für einen jungen Mann wie ihn sei es eine Ehre, an so vertrauensvoller Stelle eingesetzt zu werden, wurde Gerhard Grosse nicht müde zu betonen. Dagegen konnte David schlecht etwas sagen. Aber Ehre hin oder her â es war der Wertpapierhandel, das Büro drei Türen weiter, nach dem es ihn gelüstete.
Mit einem Seufzer rückte David seinen Schreibtischstuhl zurecht. Bis man im Bankhaus Grosse seine wahre Berufung erkannte, würde er auch weiterhin seinen Klienten interessiert zuhören, an den richtigen Stellen »Aha!«und »Oje!« sagen und sich ein paar Notizen machen. Er würde mitfühlend wirken, aber gleichzeitig eine gewisse
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