Das gläserne Tor
Vegetation. Gar eine Schlange, die sich tänzelnd durch den Sand pflügte.
Ich sterbe, dachte sie. Das sind nur Bilder, die mir mein sterbendes Hirn vorgaukelt.
Die Lichtsäule bahnte sich ihren Weg bis zum Sandboden.
Grazia konnte sehen, wie der Sand aufspritzte. Plötzlich schwand der Druck des Wassers um ihre Beine. Luft umhüllte sie, dicke, heiße Wüstenluft.
Sie stürzte in die Tiefe.
3
F elsengras war das zäheste Material, das er kannte. Es war geschmeidig und gleichzeitig so fest, dass man es nur mit einer scharfen Klinge durchtrennen konnte. Zum vermutlich hundertsten Mal in diesen zehn Tagen, seit ihn das Wüstenvolk gefangen genommen hatte, versuchte Anschar mit einem scharfkantigen Stein die Grasfessel an seinen Füßen zu durchtrennen, die ihm nur winzige Schritte erlaubte. Doch außer Blasen an den Händen brachte es ihm nichts ein. Die Knoten zu lösen, hatte er aufgegeben; sie waren zu klein und zu fest, seine Fingernägel längst gesplittert.
Mit einem Aufschrei schleuderte er den Stein, der von der Wand seines Gefängnisses abprallte. Es war eine Felsenhöhle, ein kleiner runder Raum mit einer niedrigen Öffnung, vor die seine Wärter einen Felsbrocken geschoben hatten. Ob er hier drinnen gefesselt war oder nicht, machte keinen Unterschied, aber irgendwann würden sie den Steinblock beiseiteschieben, und dann musste er sich bewegen können, wollte er die Gelegenheit zur Flucht nutzen.
Obwohl der Gedanke sinnlos war. Er konnte schließlich nicht kopflos in die Wüste rennen, das wäre sein Tod. Zuerst musste er ein Reittier stehlen, Proviant, ausreichend Wasser.
Eine Waffe. Die Wüstenmenschen waren zwar einfältig, aber sie würden ihm kaum die nötige Zeit für derlei Vorbereitungen lassen.
Einfältig, ha!, dachte er grimmig. Immerhin war es ihnen gelungen, ihn, einen der zehn besten Krieger Argads, einzufangen. Er errötete vor Scham, wenn er nur daran dachte. Dass es mehr als hundert Wüstenmänner gewesen waren, die seine kleine Reisegruppe überfallen hatten, änderte daran nichts, obgleich es ihm als Einzigem gelungen war, zu überleben. Die anderen – vier weitere Krieger, die seinem Befehl unterstanden hatten, und dazu der Priester, den sie hätten schützen sollen – lagen irgendwo dort draußen und verrotteten in der Sonne. Manchmal wünschte er sich, ihr Schicksal geteilt zu haben; dann wieder fragte er sich, ob es nicht doch einen Grund gab, dass er noch lebte. Einen tieferen Grund als den, welchen die Wüstenmenschen haben mochten, ihn zu verschonen. Einen göttlichen Grund. Aber das war unsinnig. Die Götter hatten die Welt ja längst verlassen.
Anschar kniete vor der Öffnung. Der hüfthohe Felsblock verschloss sie nicht ganz, ein handbreiter Streifen ließ Licht und ein wenig frische Luft herein. Draußen, nur wenige Schritte entfernt, sah er die Wüstenfrauen um einen kupfernen Kessel beisammensitzen, unter dem ein Dungfeuer brannte. Allesamt hatten sie ledrige, tief gebräunte Gesichter und waren in einfach geschnittene Gewänder gehüllt, die ihre mageren Gestalten umflatterten. Während eine der Frauen im Kessel rührte, flochten die anderen das Felsengras zu Körben und wanden es zu Seilen. Sie scheuchten die Kinder und schnatterten unentwegt auf eine schrille Art, die das Gehör ermüdete. Die Männer ließen sich selten blicken.
Das Dorf war recht groß, Anschar schätzte es auf vierzig oder fünfzig schäbige, vielfach geflickte Zelte, auch wenn er bei seiner Gefangennahme nicht alles hatte überblicken
können. Die Wüstenmenschen waren Nomaden, aber es gab auch feste Siedlungen, die seines Wissens nicht viel anders aussahen. Diese Menschen hier, so glaubte er, würden irgendwann weiterziehen. Was geschah dann mit ihm, wenn sie sie verließen? Würden sie ihn hier drinnen verrecken lassen? Beständig kreisten seine Gedanken um Flucht und die Verachtung, die er wie jeder Mensch des Hochlandes für das Wüstenvolk empfand. Würde er doch wenigstens in den Händen eines ehrbareren Gegners sterben!
Eine Greisin, noch faltiger und verschrumpelter als die anderen Frauen, schöpfte etwas aus dem Kessel in eine Tonschale, bedeckte sie mit einem Fladenbrot und stapfte auf wackligen Beinen in seine Richtung. Anschar wandte sich ab und lehnte sich an die Wand, damit sie ihn nicht sah. Diese Leute sollten nicht denken, er warte auf das Essen. Sein Magen knurrte längst. Sie brachten ihm unregelmäßig seine karge Ration; manchmal bekam er mehrere Male am Tag eine bis
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