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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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eine Differenz von fünf Jahren. Aber wie, meine liebe Tochter – jetzt kann ich Sie ja so nennen, Anschar versteht uns nicht -, sind Sie darauf gekommen?«
    »Na ja, vor siebzehn Jahren gab es in Berlin kein Dominikanerkloster mehr. Es wurde aufgelöst.«
    »Ah.« Er nickte, als überraschte ihn dies nicht. »Für katholische Orden ist Berlin ein ebenso schlechter Ort wie dieses heidnische Land hier. Ein schlechterer noch – die Argaden lassen einen wenigstens in Ruhe.«
    »Jedenfalls kann man bei fünf Jahren nicht mehr von einer geringen Abweichung reden, oder?«
    »Nein. Aber es war ja auch, streng genommen, nicht dasselbe Tor. Es war all die Jahre über geschlossen und hat sich erst wieder mit der Ankunft jenes Herrn geöffnet, der jetzt auf meiner Pritsche schläft. Darüber sollten Sie sich keine Gedanken machen. Ich bin ziemlich sicher, dass Sie am Ufer der Pfaueninsel wieder herauskommen, und zwar zu Ihrer Zeit.«

    »Das beruhigt mich.«
    »Zweiundzwanzig Jahre!« Kopfschüttelnd machte er sich daran, den Federbeutel zu verknoten. »Jetzt hätte ich Gelegenheit, eine riesige Wissenslücke zu schließen.«
    »Nur zu, fragen Sie mich. Noch bin ich ja da.«

    Es dämmerte, als der Duft der Vogelleiber über die Lichtung strich. Bruder Benedikt hatte sie auf Spieße gesteckt und briet sie über dem heruntergebrannten Feuer inmitten eines geziegelten Herdes. Grazia zog sich fest den Mantel um die Schultern. Sie war erschöpft vom vielen Reden und sehnte sich nach Anschar, der immer noch am Abhang saß, das Tal im Auge behielt und vermutlich an tausend Dinge dachte, die ihn plagten. Sie raffte den Saum ihres Kleides und lief über das Gras. Er drehte sich nicht zu ihr um, obwohl er sie sicherlich kommen hörte. Als sie hinter ihm stand, griff sie in sein Haar und ließ die Zöpfe durch ihre Finger gleiten. Einer hatte sich gelöst. Sie flocht ihn neu.
    »Hast du dich von der Überraschung mit Henon erholt?«, fragte sie leise.
    »Hm. Komm her.«
    Auffordernd hob er eine Hand. Sie setzte sich an seine Seite und legte das Kinn auf seine Schulter. Dunkel lag das Tal vor ihnen. Nur die Spitzen der östlichen Hügel waren in das Rot der untergehenden Sonne getaucht. Eine friedliche Gegend, wäre da nicht Anschars beständige Sorge, sie könne die Verfolger ausspucken.
    »Was hältst du von all dem, was er erzählt hat?«, fragte er.
    »Nun, Sildyu sagte ja, dass der letzte Gott seit langer, langer Zeit bestrebt sei, seinem Wüstengefängnis zu entfliehen. Und manchmal gelingt ihm das auch. Dann öffnet er das Tor und flieht in eine andere Welt, in der Hoffnung, dass die Götter ihn nicht finden. So war es wohl auch vor siebzehn
Jahren. Er öffnete für Henon und Siraia das Tor, und sie traten hindurch. Bruder Benedikt ebenso, nur in die andere Richtung. Der Gott wurde wieder eingefangen. Vor acht Monaten floh er erneut durch das Tor. Ich habe ihn gesehen, er hat mich berührt und mir die Gabe hinterlassen, Wasser zu erschaffen. Dann bin ich durchs Tor gefallen, Friedrich dicht hinter mir.«
    Anschar stützte sich auf die Arme und legte den Kopf in den Nacken. »Irgendwohin führt das Tor. Dort hinauf? Wie weit mögen die Sterne entfernt sein?«
    Sie folgte seinem Blick in den nächtlichen Himmel, in dem die fremden Sternbilder glitzerten. »Was denkst du?«
    »Keine Ahnung. Vielleicht so weit, wie von einem Ende der Wüste bis zum anderen.«
    »Von einem Ende der Wüste zum anderen mal tausend.« Sie ließ einen Finger kreisen. »Und dann noch einmal. Und noch einmal und noch einmal …«
    »Feuerköpfchen!« Leise lachte er. »Nicht einmal ein Priester könnte dir noch folgen. Hier sind die wenigsten Menschen in der Lage, auch nur bis tausend zu zählen.«
    Mit einem Mal war er auf den Beinen und hatte sich umgedreht. Grazia erhob sich, als sie Friedrich über die Lichtung wanken sah. Zwischen zwei Kiefernstämmen blieb er stehen und suchte Halt. Er wirkte noch immer schwach und benommen.
    »Was tut ihr da?«
    »Wir unterhalten uns nur«, sagte sie.
    »Man kann sich mit dem unterhalten? Kann man das?« Er stieß sich von den Bäumen ab und kam unsicheren Schrittes näher. »Rede lieber mit mir, damit ich endlich begreife, was hier los ist. Teufel auch, was ist das für eine Gegend?« Er drohte nach vorne zu fallen. Anschar packte im Nacken sein Hemd und hielt ihn fest.

    »Anschar, tu ihm nichts«, sagte Grazia schnell.
    »Habe ich nicht vor. Was hat er gesagt?«
    »Was hat er gesagt?« Friedrich rollte die

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