Das gläserne Tor
eines Tages war das Tor nicht mehr da. Es war geschlossen, verschwunden.«
»Ich verstehe das nicht«, warf Grazia kläglich ein. »Wie kann man immer woanders herauskommen?«
»Oh, dieses Tor ist unberechenbar. Ich habe all die Jahre
genutzt, um das dürftige Wissen zusammenzutragen und mit meiner eigenen Erfahrung zu ergänzen. Aber ganz sicher bin ich mir immer noch nicht, daher genießt meine Ausführungen mit einer gewissen Vorsicht. Dies zumindest lässt sich mit Gewissheit sagen.« Er holte aus den Falten seines Skapuliers ein Stück Kreide und malte eine Wellenlinie auf das Holz. Darunter eine zweite, gerade Linie.
»Es scheint so eine Art Oben und Unten zu geben. Oben ist immer Wasser. Unten fester Boden.« Beide Linien verband er mit einem kräftigen Strich. »Und dies ist das Tor.«
Anschar, der soeben mit seinem letzten Vogel fertig geworden war, verschränkte die Arme und legte den Kopf in den Nacken. »Du meinst, über uns ist Wasser? Schwer vorstellbar.«
»Nein, ganz so meinte ich das nicht. Bedenke, Grazias und meine Welt hat nur einen Mond, das ganze Firmament ist ein anderes. Sie kann nicht über uns schweben. Oben und Unten sollen das Verhältnis der Welten zueinander nur veranschaulichen. Der obige Ausgangspunkt ist immer derselbe. Der untere Punkt, der Punkt der Ankunft sozusagen …«, Bruder Benedikt deutete auf die zweite Linie. »Ja, der ist willkürlich.«
»Das ist also der Grund, weshalb Friedrich hier irgendwo herauskam und ich in der Wüste«, bemerkte Grazia. »Aber warum ist es so?«
»Ich weiß es nicht. Möglicherweise hält das Wasser die Lichtsäule im Zaum, während sie nach unten hin frei in der Luft schwebt. Aber das sind nur Mutmaßungen. Wie das Tor wirkt, weiß Gott allein.«
»So ist es«, warf Anschar ein. »Der letzte Gott öffnet das Tor und macht damit, was er will. Es liegt in seinem Ermessen. Was soll man denn da erklären?«
»Wir sprechen nicht von demselben Gott, junger Mann.«
»Meinetwegen. Wäre ich ein Priester, würde ich dir jetzt zeigen, was ich von deiner Bemerkung halte, aber das bin ich ja nicht.«
»Diese Götzenanbeter!« Der Mönch wandte den Blick zum Himmel. »Der Herr gebe mir Demut.«
Grazia räusperte sich. »Bruder Benedikt, du hast eines noch nicht erklärt. Wie kann es sein, dass Friedrich vor drei Tagen aus dem Tor kam und ich vor acht argadischen Monaten?«
»Nun, so wie es räumliche Abweichungen gibt, so gibt es auch geringe zeitliche. Ein paar Tage vielleicht, ein paar Monate. Oder wie in deinem Fall sogar mehr. Beim ersten Mal hatte ich nicht schlecht gestaunt, als ich im Frühsommer durch das Tor ging und im Spätherbst hierher zurückkehrte, obwohl ich nach meinem Gefühl nur ein paar Augenblicke unterwegs gewesen war. Das ist schon recht eigenartig.«
»Recht eigenartig? Eine feine Umschreibung für diesen Irrsinn«, meinte Anschar und rieb sich das Kinn. »Augenblick!«, schrie er plötzlich. »Siebzehn Jahre bist du hier, hast du gesagt? Der Mann, den du beobachtet hast – der ins Wasser ging, dort in deiner Welt! War es vielleicht ein Königsvogel, den er unter dem Arm trug?«
Bruder Benedikt schien unter der Wucht der Worte zu schrumpfen. »Ja, äh … so genau konnte ich das nicht erkennen. Aber ja, es könnte ein Pfau gewesen sein.«
»Es war Henon.« Anschar stand auf. Fast wäre er über die Bank gestolpert, so sehr zitterte er. »Du hast Henon gesehen. Ihr Götter.«
Er stapfte zu einer Kiefer und lehnte sich, ihnen den Rücken zuwendend, an den Stamm. In einer stummen Frage hob Bruder Benedikt die Brauen, doch Grazia hob beschwichtigend die Finger.
»Er kannte ihn.« Sie wechselte ins Deutsche. »Henon ist
vor ein paar Tagen gestorben. Er war durch das Tor getreten, damals vor siebzehn Jahren.« Die näheren Umstände verschwieg sie, das wollte sie nicht auch noch erklären müssen, zumal Anschar es gewiss nicht billigen würde.
»Ich verstehe. Und durch eine Fügung des Schicksals oder vielmehr Gottes Wille war ich in der Nähe. Oh, hören Sie nur, mir kommt ja nach all den Jahren meine Muttersprache wie ein Klumpen aus der Kehle!«
Grazia lächelte. Er hörte sich in der Tat etwas bemüht an. Das förmliche Sie kam ihr jetzt auch ungewohnt vor. »Bruder Benedikt, kann es sein, dass es gar nicht 1878 war, als Sie durch das Tor gingen?«
»Gewiss nicht. Es war im Jahr 1873. Am 3. Juni 1873, um genau zu sein.«
»Bei mir war’s 1895.«
»Oh! Das ist allerdings eine Überraschung. Dann haben wir also
Weitere Kostenlose Bücher