Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
Vom Netzwerk:
dazu, die Bestie anzulocken. Eine Verwundung würde den Wert des Opfers schmälern.«
    Welch ein Irrsinn, dachte Anschar. Sie wollten tatsächlich, dass der Geruch seines Blutes dem Schamindar in die Nase stieg. Geeryus silberne Augen leuchteten noch stärker als sonst, als sie den Dolch ergriff. Ihre Zungenspitze glitt zwischen die Zähne, ihre Brauen waren konzentriert gerunzelt. Unterhalb seines linken Schlüsselbeins setzte sie ihn an. Anschar
verzog keine Miene, als sie die Klinge eine Handbreit nach unten zog und einen roten Strich hinterließ. Erst als sie seiner Brustwarze gefährlich nahe kam, schlug er ihr den Dolch aus der Hand. Sofort hoben sich sämtliche Bogen noch ein Stück höher. Geeryu rieb sich die Hand und sperrte empört den Mund auf, aber er lächelte nur.
    »Schlag mich, Hure, spuck mich an. Einem Toten kannst auch du nicht mehr drohen.«
    Sie hob eine Faust, aber Mallayur drehte sie zu sich herum und schüttelte den Kopf. »Lass ihn. Er gehört dem Schamindar.«
    Geeryu trat zwei Schritte zurück, aber ihre Augen funkelten noch immer.
    »Ich hätte dich länger in den Werkstätten lassen sollen«, sagte Mallayur, zu Anschar gewandt. »Vielleicht wäre es mit dir dann anders gekommen. Die Überlegung, dich zu opfern, kam erst auf, als ich mich gezwungen sah, dich dorthin zu schicken. Ich hatte gehofft, dass dich der Aufenthalt gefügig machen würde. Aber genauso hatte ich befürchtet, dass es nicht gelingt. Letztlich hast du selbst entschieden, für den Gott zu sterben. Wenigstens als Opfergabe wirst du mich nicht enttäuschen. Steig auf den Felsen.«
    Mit einer Handbewegung befahl er zwei seiner Leute ebenfalls hinauf. Der Felsen war anderthalb Manneslängen hoch, ließ sich aber an einer Seite recht einfach erklimmen. Anschar hatte starren Blickes zugehört. Was sollte er tun? Jede Regung, die verriet, dass er anderes im Sinn hatte, als diesen Opferfelsen zu besteigen, würde dazu führen, dass er mit Pfeilen gespickt wurde.
    »Geh«, wiederholte Mallayur. Es war die eiseskalte Stimme, die Anschar dazu brachte, zu gehorchen. Alles war aussichtslos, aber dort auf dem Felsen würde er wenigstens der verhassten Gegenwart seines Herrn entkommen. Er stieg
hinauf und kauerte neben dem Bronzehaken. Die Männer legten die Enden einer Leine um seinen Hals und den Haken, verknoteten die Fasern und stiegen wieder hinab. Die Bogenschützen senkten ihre Waffen.
    »Komm«, sagte Mallayur zu seiner Hure und half ihr, in den Sattel ihres Pferdes zu steigen. Dann schwang er sich auf seines. Die Männer taten es ihm nach. Er blickte zu Anschar zurück, fast ein wenig bedauernd, und hieb die Fersen in die Flanken. Sie ritten den Weg zurück, den sie gekommen waren; bald waren sie außer Sichtweite. Die Geräusche der trommelnden Hufe verklangen. Anschar fragte sich, wann sie zurückkehrten, um sich davon zu überzeugen, dass der Schamindar sich an ihm gütlich getan hatte. Morgen früh vermutlich. Über Nacht trieben sie sich gewiss nicht in der Nähe herum.
    Er prüfte die Knoten. Sie waren nicht zu lösen, alles andere hätte ihn auch sehr verwundert. Ebenso wies der Fels erwartungsgemäß keine scharfen Kanten auf, mit denen sich die Leine durchscheuern ließe. Nur der Vollständigkeit halber versuchte er den Haken zu lösen, indem er die Füße gegen den Fels stemmte und mit aller Kraft an dem Band zog. Das Metall bewegte sich nicht. Er kroch an den Felsrand. Ein steiler Abgrund tat sich vor ihm auf, durch einige handbreite Sprünge und Risse gemildert. Am Fuß des Felsens lagen gebleichte Knochen, an denen stellenweise von der Sonne gedörrtes Fleisch hing. War dieser Ort ein bevorzugter Fressplatz für die Bestie? Grundlos hatte Mallayur ihn gewiss nicht ausgewählt. Anschar hockte sich auf den blanken Hintern und zog die Knie an. Die nur mühsam aufrechterhaltene Selbstbeherrschung versickerte wie Wasser im Sand. Ein Angstbeben durchdrang seinen Körper. Er schlang die Arme um sich, um dem Zittern Herr zu werden. Wie es aussah, würde er tatsächlich hier auf diesem Felsblock sterben. Wodurch,
das war noch offen. Wirklich durch den Schamindar? Oder durch Hunger und Durst? In einer flachen Kuhle stand etwas Wasser. Regengüsse würden demnach seinen Tod hinauszögern. Es sei denn, er beendete sein Leben selbst, indem er sich erhängte.
    War dies nicht besser? Dann hätte er es hinter sich. Aber auch das Ausharren war ein Kampf, und er hatte noch nie aufgegeben. Wie er gegen Hunger oder die Bestie

Weitere Kostenlose Bücher