Das gläserne Tor
kämpfen sollte, wusste er nicht. Eines jedoch hatte er gelernt: Wer nichts tun konnte, wartete, bis die Zeit des Handelns gekommen war, und verlor sich nicht im Hadern. Er versuchte sich abzulenken, an etwas Angenehmes zu denken. Nicht dass ihm viel in den Sinn kam, aber es hatte Zeiten in seinem Leben gegeben, da war er glücklich gewesen. Wenn er nicht darüber nachgedacht hatte, dass er ein Sklave war. Wenn die Sonne die Palastmauern leuchten ließ und die Vögel in ihren Rundhäusern vor Lebensfreude zu platzen schienen. Wenn er mit Henon beim Bier saß, oben auf seiner Terrasse, und der sinkenden Sonne zusah. Wenn Grazia …
Grazia. Sie gekannt zu haben, machte das Ende umso schmerzlicher. Oder leichter? Sie hatte seinem kurzen Leben im Nachhinein einen weit höheren Wert gegeben als den, ein guter Schwertkämpfer zu sein. »Warum nur habe ich mich davon abhalten lassen, mit dir zu gehen, Feuerköpfchen?«, fragte er. »Ich weiß, dass du es auch bedauerst. Ich weiß es.« Er glaubte sie vor sich zu sehen, in ihrer Stadt voller wunderlicher Dinge, mit blau beschmiertem, verweintem Gesicht, als erahne sie seinen Tod.
Der Tag schleppte sich mit quälender Langsamkeit dahin. Auf der freien Fläche zwischen den Felsen und dem Wald regte sich kein Leben. Anschar achtete auf alles, was sich tat, aber da waren nur über den Wipfeln der Zedern kreisende Vögel. Mit Einbruch der Nacht begann er zu frieren. Selbst
wenn der Schamindar nicht kam, würde es eine der übelsten Nächte seines Lebens werden.
Auch in der Dunkelheit hatte er gut im Blick, was sich auf dem Abhang tat. Der Mond des Inar war schwarz, aber der seiner Gemahlin leuchtete in fast voller Pracht. Er nickte ein, denn das angestrengte Starren machte ihn müde. Doch als er vom Wald her das Unterholz knacken hörte, war er sofort hellwach.
Ein großer schwarzer Schatten kam aus dem Wald und bewegte sich den Abhang herauf. Anschar presste sich bäuchlings auf den Fels, um sich so unsichtbar wie möglich zu machen. Das Tier näherte sich, dabei verharrte es immer wieder, um den massigen Kopf in die Höhe zu recken und die Witterung des Blutes aufzunehmen. Anschar war sich sicher, dass es der Schamindar war – sonst gab es kein Tier dieser Größe in den Wäldern, außer Bären, aber dies hier war schlank und bewegte sich mit katzenhafter Geschmeidigkeit. Deutlich waren die drei quastenbesetzten Schwänze zu sehen, die aufgeregt hin und her schwangen.
Die Furcht wich für einen Augenblick der Faszination, zum ersten Mal das von ihm so bewunderte Tier zu sehen. Es kam heran. Anschar kroch an die Kante. Unter sich sah er den schwarzen Schatten, wie er dicht an der Felswand entlangglitt. Der schlanke Kopf verharrte an der Stelle, wo die Knochen lagen. Deutlich war zu hören, wie er schnüffelte. Anschar legte die Hand auf die verkrustete Wunde, als ließe sich so aufhalten, dass die Bestie ihn roch. Da hob sie den Kopf. Sie starrte ihn an.
Er wich zurück. Ein Fauchen durchriss die nächtliche Stille, dass es ihm in den Ohren dröhnte. Und dann war sie mit einem Satz oben.
Einer der Schwänze peitschte so heftig gegen seine Schulter, dass es ihn auf den Rücken warf. Gemächlich drehte sich
der Schamindar. Der Himmel wurde schwarz, als sich sein Schädel in Anschars Blickfeld schob. Der Kopf senkte sich herab. Die Nase glitt über seine Brust, eine feuchte Zunge über die Wunde. Anschar roch etwas von dem, was die Bestie hier gefressen hatte, den süßlichen Gestank der Verwesung. Er drehte den Kopf weg, als die Nase sein Gesicht ertastete. Barthaare, hart wie Bronzedraht, kratzten über seine Haut. Endlich hatte die Bestie begriffen, dass er ihr Futter war – sie fauchte ihn an. Vier fahlweiße Fangzähne, lang wie Finger, tauchten aus dem Schatten auf. Anschar schüttelte seine Erstarrung ab. Er schlug mit der Faust so fest gegen die Nase, wie es ihm möglich war. Nein, er hatte keine Hoffnung, aus diesem Kampf siegreich hervorzugehen. Aber hier zu liegen und so zu tun, als sei er bereits tot, wollte er keinesfalls. Er warf den Kopf beiseite, als eine Pfote sich hob. Deutlich sah er die drei dicken, spitz endenden Krallen.
Ein reißender Schmerz zog sich über seine Schulter hinweg. Anschar schrie auf. Die Bestie wich zurück. Er rollte sich auf den Bauch, versuchte einem neuerlichen Prankenhieb auszuweichen und rutschte über die Kante.
Das Grasband spannte sich. Fahrig tastete er nach Rissen und vorspringenden Kanten. Seine Zehen und Finger fanden
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