Das gläserne Tor
das Bad und schritt die Stufen hinab. Das Becken war leer. Sie stieg hinein, hob eine Hand und ließ das Wasser fließen. Er hatte aus ihrer Hand getrunken. Er war zu ihr gekommen, als sie hier gebadet hatte. Grazia sackte auf den gefliesten Boden. Ihr Kleid wurde nass, aber das störte sie nicht. Sie schloss die Augen, hob die Finger an die Wangen und sehnte sich nach dem Gefühl, das er ihn ihr ausgelöst hatte, als sie von seinen Küssen überschüttet worden war. Tränen rannen ihr die Wangen herab – Sturzbäche im wahrsten Sinne des Wortes. Die Gabe kam aus ihr heraus, und in ihr Heulen mischte sich Gurgeln und Zischen, als gewinne das Wasser durch ihre Hände eigenes Leben; es brodelte und spritzte hoch hinauf. Bald war sie bis zum Scheitel durchnässt, aber sie merkte es kaum. Sie gab sich ihrem Schmerz hin und schrie seinen Namen.
Fremde Hände griffen nach ihr und zogen sie auf die Füße. Verwundert stellte sie fest, dass sie das Becken bis zur dritten Stufe gefüllt hatte. Das Wasser zerrte an ihren Beinen, als sie hinausstieg. Die beiden Sklavinnen mussten alle Kraft aufbieten, um sie hinauf in die Wohnung zu bekommen.
Grazia wehrte sich nicht, als sie anfingen, sie zu entkleiden. Fast ohne es zu merken, half sie nach, warf das Korsett ab und stieg nackt aus dem Unterkleid. Doch dann wurde sie ihres Zustandes gewahr, riss ihr argadisches Gewand an sich, rannte ins Schlafzimmer und verbarg sich unter der Zudecke, wo sie sich mühsam ankleidete.
Rücklings ließ sie sich in die Kissen fallen, der Blick wieder von Tränen verschleiert. Mehr als alles andere barg dieses Zimmer Erinnerungen. Hier hätte sie sich Anschar beinahe hingegeben – wie sehr bereute sie jetzt, es nicht getan zu haben! Und hier hatte der tote Henon gelegen …
Sie bekam einen Becher an die Lippen gesetzt. Süßer Wein glitt ihr die Kehle hinab. Ein bitterer Nachgeschmack folgte, der sie müde machte. Bitte keine Träume, dachte sie, als sie in den Schlaf hinüberglitt. Gleich, ob sie schön oder schrecklich waren, sie würden ihr nur wehtun.
Die Helligkeit ließ sie blinzeln. Ihr Kopf schmerzte. Das Kissen war nass, als habe sie im Schlaf weiterhin Tränen vergossen. Jäh zerschlug sich die Hoffnung, einem Irrtum aufgesessen zu sein, und die Wirklichkeit senkte sich schwer wie Blei auf sie herab. Anschar war tot. Sie war allein. Allein in der fremden Welt.
Grazia wischte sich über die verklebten Augen. Wie spät war es? Sie wollte nach ihrer Uhr tasten, aber die war noch im Koffer, und welche Zeit sie einstellen musste, wusste sie nicht. Weshalb auch? War das nicht gleichgültig? War nicht alles gleichgültig geworden? Sie quälte sich aus dem Bett, zog den Nachttopf hervor und hockte sich darauf. Draußen im Salon war jemand; er würde hören, wie sie ihr Wasser ließ. Selbst das kümmerte sie nicht. Sie ließ sich zurück aufs Bett
fallen, beseelt von dem Wunsch, weiterzuschlafen – ewig, damit sie nicht an ihren Verlust denken musste. Aber sie war nicht mehr müde.
»Wer ist da?«, rief sie mit schleppender Stimme. Sogar das Sprechen war eine Last, von der sie nicht wusste, wozu sie noch gut war. Konnte sie nicht einfach tatenlos hier liegen, bis sie irgendwann wie Niobe zu Stein wurde? Sie hatte Anschar die Geschichte von der thebanischen Königin erzählt, deren Kinder von den Göttern getötet worden waren. Niobe hatte nicht zu weinen aufgehört, selbst als sie in Stein verwandelt worden war. Bist du sicher, dass sie keine Argadin war?, hatte er daraufhin gemeint.
Ach, warum nur musste jeder Gedanke an ihn erinnern?
Eine in schlichtes Weiß gewandete Gestalt erschien im Durchgang zum Wohnzimmer. Ein tröstender Engel? Nein, es war Bruder Benedikt, der auf sie zukam, sich über sie beugte und ihr über die Stirn strich.
»Ich habe draußen auf einer Matte geschlafen«, sagte er und versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln. »War eigentlich recht bequem; in meiner Hütte habe ich es auch nicht besser. Wie Ihre Nacht war, muss ich wohl nicht fragen, oder?«
»Nein.«
Er nickte langsam. »Haben Sie Hunger? Ein junger Mann hat eben Frühstück hereingetragen, es sieht wirklich einladend aus.«
»Ich will nichts.«
»Sie wollen weinen. Ja, tun Sie das.«
»Ich kann es immer noch nicht glauben«, flüsterte sie. »Und das ist das Schlimmste von allem. Vielleicht wäre es erträglicher, wenn ich ihn hätte sterben sehen.«
»Leider ist es die Wahrheit. Ich habe ja gesehen, wie sie mit ihm in Richtung der
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