Das gläserne Tor
kein Mann, den man gernhaben kann. Er ist eine Waffe. Er lebt, um seinen Herrn zu schützen. Verstehst du, das ist kein Umgang für dich. Ihr habt notgedrungen gemeinsam die Wüste durchquert, aber dabei solltest du es belassen.«
»Aber ist das nicht meine Sache?«, fragte sie herausfordernd.
Mallayur ließ den Kelch los. »Was hier in diesem Land
deine Sache ist und was nicht, musst du noch lernen. Aber glaub mir, er sähe das nicht anders. Du bist aus seinem Leben verschwunden. Sein Platz ist jetzt in meinem Palast, und er würde es sicherlich vorziehen, wenn du ihn nicht mehr an vergangene Abenteuer erinnerst.«
Das glaube ich nicht, dachte sie. Niemals! Einzuwenden gab es dagegen indes nichts, also schwieg sie. Die Art, wie er sie anstarrte, wurde ihr so unangenehm, dass sie Sildyu erneut bat, sie gehen zu lassen. Die Königin erhob sich und winkte Fidya zu, die sich von dem Meya löste und zu Grazia herabstieg.
»Ich begleite dich hinaus. Fidya wird dich in deine Gemächer zurückbringen.«
Fidya schien sich an der Unterbrechung ihres Techtelmechtels nicht weiter zu stören, sie strahlte wie immer und schritt voraus. Grazia war froh, den stechenden Blicken des Königs von Hersched zu entkommen. Möglichst leise auftretend, durchquerte sie die Halle, die Königin dicht hinter sich. Am Ausgang stockte Fidya und wich zurück. Eine Frau tauchte auf. Beinahe wäre Grazia mit ihr zusammengestoßen.
Eine von zerzausten Haaren umrahmte Albtraumfratze stand ihr gegenüber. Blaue Farbe bedeckte die obere Hälfte der Wangen, blau waren die Lippen. Tränen hatten die Farbe bis hinunter zum Hals geschwemmt. Die Augen stierten durch sie hindurch. Grazia schrie auf.
Die Frau wankte an ihr vorbei, auf die Stufenpyramide zu. Plötzlich warf sie den Kopf zurück und stieß ein lang gezogenenes Heulen aus. Alle waren wie erstarrt, nur der König war aufgesprungen, hastete die seitliche Treppe herab und lief auf sie zu. In seinen Armen sackte sie zusammen und begann hemmungslos zu weinen.
»Warum hast du ihn nicht zu mir geschickt?«, schrie sie. »Nur er kann mir sagen, was passiert ist!«
»Willst du das wirklich wissen?«, entgegnete er.
»Ja. Ihr Götter, ja!«
Madyur packte ihren Kopf mit beiden Händen und drehte ihn in Grazias Richtung. »Ich konnte ihn dir nicht schicken. Anschar gehört mir nicht länger. Aber diese Frau dort, die kannst du fragen.«
Grazia wurde heiß und kalt zugleich. Sie zuckte zurück, als die Frau auf sie zuhielt. Hilflos sah sie sich nach Fidya um, doch die stand abseits, hatte die Arme um sich geschlungen und weinte vor Schreck.
»Hast du Eschnamar gesehen?«, fragte die Frau. Sie strich sich einige Strähnen aus dem Gesicht, wie um sich zu beruhigen, doch sie zitterte am ganzen Leib.
»Nein. Als ich zum ersten Mal von ihm hörte, lag sein Tod einige Tage zurück.« Grazia lag auf der Zunge, dass Anschar ihr davon erzählt hatte, und das recht ausführlich. Aber das schluckte sie schnell herunter. Die schrecklichen Einzelheiten konnte sie dieser Frau, die offenbar die Witwe des Priesters aus Anschars Trupp war, einfach nicht sagen.
Erneut warf die Frau den Kopf zurück und heulte. Madyur zog sie an sich, selbst mit den Tränen kämpfend, und winkte zugleich irgendjemanden heran, der sich um sie kümmern sollte. Sildyu berührte Grazia am Ellbogen und führte sie hinaus auf den Korridor.
»Die arme Frau«, murmelte Grazia, noch ganz benommen. »Aber wozu die blaue Schminke?«
»Damit man ihre Trauer sieht. Jede Träne zeigt, wie sehr man den Toten geliebt hat. Dir ist das sicherlich fremd. Nimm es ihr nicht übel. So hat sie schon geweint, als Eschnamar gehen musste. Aber sie war immer davon überzeugt, dass Anschar ihn zurückbringen würde. Dass es sehr leicht ist, in der Wüste umzukommen, hat sie nicht begriffen.«
»Ich verstehe.«
»Erschrecken wollte sie dich gewiss nicht.« Sildyu ließ sie los. »Ich muss wieder hinein. Warte hier auf Fidya, sie wird sicher gleich zu dir kommen. Allein findest du ja nie zurück.«
Grazia nickte ergeben. Noch einmal drückte Sildyu ihre Hand und neigte sich leicht vor.
»Besuche mich morgen im Tempel vor der Stadt, dort können wir reden.«
»Im Tempel?«
»Ja, ich bin täglich im Tempel des Götterpaares. Ich bin die Hohe Priesterin der Hinarsya, so wie mein Gemahl der des Inar ist.«
»Du bist eine Priesterin!« Deshalb also war sie als Einzige in schlichtes Weiß gekleidet. »O ja, es wäre mir sehr recht, wenn wir uns in Ruhe
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