Das gläserne Tor
unterhalten könnten. Anschar sagte, wenn mir jemand helfen könne, dann ein Priester.«
»Oh, hoffentlich überschätzt er uns da nicht. Aber zumindest weiß ich, dass du durch das Tor des letzten Gottes gekommen sein musst. Es kann nur so sein. Man weiß nicht viel darüber, aber das Wenige solltest du dir anhören, wenn du je darauf hoffen willst, es wiederzufinden.«
Mallayur griff nach seiner Hand. Anschar musste sich zwingen, sich zu entspannen, damit sein Herr die Hand heben und umdrehen konnte. Ein Daumennagel kratzte über die vier Krallen des Schamindar, während Mallayur sie ausgiebig betrachtete. Dann ließ er ihn los und ging zu einem Tisch. Dort lagen eine Zange und ein silbernes Schmuckstück. Er nahm es mit spitzen Fingern hoch und kehrte zu Anschar zurück.
»Das tragen meine hochrangigsten Bediensteten. Du gehörst nun dazu, und du bist der erste Sklave in meinem
Palast, der mein Zeichen trägt. Ich hoffe, du bist dir dieser Ehre bewusst.«
Es war eine kelchförmige, nach unten spitz zulaufende Blume. Schnell hatte Mallayur die Heria an den Ohrhaken gehängt und die Öse mit der Zange zugebogen. Dann setzte er sich Anschar gegenüber in einen Sessel und betrachtete sein Werk. Hinter ihm stand der junge Sklave und bewegte den roten Federwedel.
»Der Ohrschmuck steht dir gut. Auch der Rock.« Er lehnte sich zurück und bettete die Hände auf die Lehnen. Seine Finger spielten mit der Zange. Regungslos stand Anschar vor ihm und ließ die nachdenkliche Musterung über sich ergehen. Was er trug, war ein weißer, gefranster Wickelrock, der ihm bis zu den Kniekehlen reichte. Die Fransen waren in der Farbe Herscheds eingefärbt, und so konnte jeder am roten Saum erkennen, wem er jetzt diente. Nach einer schier endlosen Zeit nickte Mallayur zufrieden.
»Wir können gut miteinander auskommen, wenn du dich nicht sträubst. Lass uns jetzt wie ebenbürtige Männer reden. Du kennst diese Frau. Die Rothaarige. Ich traf sie gestern, und ich möchte wissen, wer sie ist und woher sie kommt. Sag mir alles, was du über sie weißt.«
Anschar hatte vorgehabt, Mallayurs Forderungen mit Gelassenheit zu begegnen. Doch dass die Sprache auf Grazia kam, überraschte ihn so sehr, dass ihm ein widerwilliges Knurren entschlüpfte.
»Nicht sträuben, sagte ich.« Noch klang Mallayur recht milde. »Nun?«
Natürlich, das Bankett. Anschar konnte sich lebhaft vorstellen, wie das dumme Feuerköpfchen bereitwillig seine krude Geschichte erzählt hatte, ohne zu wissen, wer Freund und wer Feind war. Andererseits – warum sollte Mallayur ihr Feind sein, nur weil er seiner war?
»Sie heißt Grazia«, quälte er sich ab.
»Das weiß ich.«
»Sie stammt aus einem fernen Land, von dem ich noch nie gehört habe. Nein, Herr, ich könnte nicht behaupten, sie zu kennen. Warum willst du das wissen?«
Mallayur ruckte vor und musterte ihn scharf. »Hat Madyur dir etwa gestattet, Gegenfragen zu stellen? Du solltest dir das schleunigst abgewöhnen. Ihre ganze Geschichte – dass sie mitten in der Wüste erwachte – klingt danach, als könne sie eine Nihaye sein. Was meinst du dazu?«
Was ich dazu meine?, dachte Anschar grimmig. Wäre ich dir jetzt ebenbürtig, würde ich sagen, du sollst sie in Ruhe lassen.
»Ich weiß nicht, wie sie hergekommen ist«, rang er sich eine Antwort ab. »Wodurch es auch immer ausgelöst worden sein mag, es macht sie noch nicht zu einer Halbgöttin. Denn dann wäre sie ja die Tochter eines Gottes, und das ist sie ganz sicher nicht.«
»Nicht? Diese Haare, ihr Aussehen – die ganze Frau schreit danach, dass sie eine ist.«
»Das ist abwegig. Wie sollte es heute noch Nihayen geben? Und würde sie dann so verloren wirken? Sie begreift ja gar nicht richtig, was um sie herum vor sich geht.«
»Ja, sie wirkt ein bisschen hilflos. Aber mein Verdacht gründet sich nicht allein darauf, dass sie so offensichtlich fremd ist.« Erwartungsvoll sah Mallayur ihn an und schwieg.
»Worauf dann?«, fragte Anschar.
»Das weißt du doch.«
»Nein. Du sprichst in Rätseln.«
»Ach, Anschar.« Vielsagend klapperte der Herr von Hersched mit der Zange. Es war deutlich, dass seine Gelassenheit nur gespielt war. »Erzähl mir nicht, dass du es nicht weißt. Dass du nichts von ihrer … Fertigkeit weißt.«
Welche Fertigkeit? Sie hatte keine. Jedenfalls keine, von der Anschar wusste. »Ich verstehe nicht. Dass sie so schnell unsere Sprache gelernt hat, meinst du das?«
Mallayur lachte. »Warum sollte mich das
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