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Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften

Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften

Titel: Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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Mund des Meisters, so wenig redselig er sein mochte, hatte er schon manches Wort alter Weisheit oder einsamer Betrachtung vernommen – in der heutigen Stunde aber war es neu und anders, es war die Ahnung vom Ganzen, die ihn getroffen hatte, das Gefühl der Zusammenhänge und Beziehungen, der Ordnung, die ihn selbst mit einbezog und mitverantwortlich machte. Wer den Schlüssel dazu hätte, der müßte nicht bloß aus den Fußspuren ein Tier, an den Wurzeln oder Samen eine Pflanze zu erkennen imstande sein, er müßte das Ganze der Welt: die Gestirne, die Geister, die Menschen, die Tiere, die Heilmittel und Gifte, alles müßte er in seiner Ganzheit erfassen und aus jedem Teil und Zeichen jeden andern Teil ablesen können. Es gab gute Jäger, die konnten aus einer Spur, aus einer Losung, aus einem Haar und Überbleibsel mehr erkennen als andre: sie erkannten an ein paar winzigen Haaren nicht nur, von welcher Art Tier sie stammten, sondern auch, ob es alt oder jung, Männchen oder Weibchen sei. Andre erkannten an einer Wolkenform, an einem Geruch in der Luft, an einem besondern Verhalten der Tiere oder Pflanzen das kommende Wetter für Tage vor
aus; sein Meister war darin unerreicht und nahezu unfehlbar. Andre wieder hatten eine angeborene Geschicklichkeit: es gab Knaben, die vermochten mit den Steinen einen Vogel auf dreißig Schritt zu treffen, sie hatten es nicht gelernt, sie konnten es einfach, es geschah nicht durch Bemühung, sondern durch Zauber oder Gnade, der Stein in ihrer Hand flog von selbst, der Stein wollte treffen, und der Vogel wollte getroffen sein. Andre sollte es geben, welche die Zukunft vorauswußten: ob ein Kranker sterben werde oder nicht, ob eine Schwangere Knaben oder Mädchen gebären werde; die Tochter der Ahnmutter war dafür berühmt, und auch der Wettermacher besaß, sagte man, etwas von solchem Wissen. Es mußte nun, so schien es Knecht in jenem Augenblick, im riesigen Netz der Zusammenhänge einen Mittelpunkt geben, von dem aus alles gewußt, alles Vergangene und alles Kommende gesehen und abgelesen werden konnte. Dem, der an diesem Mittelpunkt stünde, müßte das Wissen zulaufen wie dem Tal das Wasser und dem Kohl der Hase, sein Wort müßte scharf und unfehlbar treffen wie der Stein aus der Hand des Scharfschützen, er müßte kraft des Geistes alle diese einzelnen wunderbaren Gaben und Fähigkeiten in sich vereinen und spielen lassen: dies wäre der vollkommene, weise, unübertreffliche Mensch! So wie er zu werden, sich ihm anzunähern, zu ihm unterwegs zu sein: das war der Weg der Wege, das war
das Ziel, das gab einem Leben Weihe und Sinn. So etwa empfand er es, und was wir in unsrer ihm unbekannten, begrifflichen Sprache darüber zu sagen versuchen, kann nichts von deren Schauer und von der Glut seines Erlebnisses mitteilen. Das nächtliche Aufstehen, die Führung durch den finstern, lautlosen Wald voll Gefahr und Geheimnis, das Harren auf der Steinplatte oben in der Morgenkälte, das Erscheinen des dünnen Mondgespenstes, die spärlichen Worte des weisen Mannes, das Alleinsein mit dem Meister zu außerordentlicher Stunde, dies alles wurde von Knecht als eine Feier und ein Mysterium erlebt und aufbewahrt, als Feier der Initiation, als seine Aufnahme in einen Bund und Kult, in ein dienendes, aber ehrenvolles Verhältnis zum Unnennbaren, zum Weltgeheimnis. Zu Gedanken oder gar zu Worten konnte dies Erlebnis und manches ähnliche nicht werden, und ferner und unmöglicher noch als jeder andre Gedanke wäre etwa dieser gewesen: »Bin nur ich allein es, der dies Erlebnis schafft, oder ist es objektive Wirklichkeit? Fühlt der Meister dasselbe wie ich, oder lächelt er über mich? Sind meine Gedanken bei diesem Erlebnis neue, eigene, einmalige, oder hat der Meister und mancher vor ihm einst genau dasselbe erlebt und gedacht?« Nein, es gab diese Brechungen und Differenzierungen nicht, es war alles Wirklichkeit, war getränkt und voll von Wirklichkeit wie ein Brotteig von Hefe. Wolken, Mond und wechseln
des Himmelstheater, nasser kalter Kalksteinboden unterm nackten Fuß, feuchte rieselnde Taukälte in der bleichen Nachtluft, tröstlicher Heimatgeruch nach Herdrauch und Laubstreu, aufbewahrt im Fell, das der Meister umgeschlagen trug, Klang von Würde und leiser Anklang von Alter und Todesbereitschaft in seiner rauhen Stimme – alles war überwirklich und drang beinah gewalttätig in die Sinne des Jünglings. Und für Erinnerungen sind Sinneseindrücke ein tieferer Nährboden als die

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