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Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften

Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften

Titel: Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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es dafür zu spät sei. Er hatte gehofft, die andern an seinem eignen Erlebnis teilhaben lassen, es ihnen zum Geschenk machen und auf sie übertragen zu können, er hatte gehofft, unter seinem Zuspruch würden sie vor allem einsehen, daß nicht die Sterne selber, oder doch nicht alle, herunterfielen und vom Weltsturm davongetragen würden, und damit, daß sie vom hilflosen Schrecken und Staunen zum tätigen Beobachten fortschritten, würden sie der Erschütterung standhalten können. Aber es wären, das sah er schnell, im ganzen Dorf nur sehr wenige dieser Beeinflussung zugänglich gewesen, und bis man
auch nur sie gewonnen hätte, wären die andern vollends ganz dem Irrsinn verfallen. Nein, es war hier, wie so oft, mit der Vernunft und den klugen Worten gar nichts zu erreichen. Zum Glück gab es andre Mittel. Wenn es unmöglich war, die Todesangst aufzulösen, indem man sie mit Vernunft durchsetzte, so war es doch möglich, die Todesangst zu leiten, zu organisieren, ihr Form und Gesicht zu geben und aus dem hoffnungslosen Durcheinander von Tollgewordenen eine feste Einheit, aus den unbeherrschten wilden Einzelstimmen einen Chor zu machen. Alsbald setzte es Knecht ins Werk, alsbald schlug das Mittel an. Er trat vor die Leute, schrie die wohlbekannten Gebetsworte, mit welchen sonst die öffentlichen Trauer- und Bußübungen eröffnet wurden, die Totenklage um eine Ahnfrau oder das Opfer- und Bußfest bei öffentlichen Gefahren wie Seuchen und Überschwemmung. Er schrie die Worte im Takt und unterstützte den Takt durch Händeklatschen, und im selben Takt, schreiend und händeklatschend, bückte er sich bis fast zum Erdboden, erhob sich wieder, bückte sich wieder, erhob sich, und schon machten zehn und zwanzig andere die Bewegungen mit, die greise Dorfmutter stand, murmelte rhythmisch und deutete mit kleinen Verneigungen die rituellen Bewegungen an. Wer noch von den anderen Hütten her sich einfand, ordnete sich ohne weiteres in den Takt und Geist der Zeremonie ein, die paar ganz Besessenen brachen
entweder bald mit erschöpften Kräften zusammen und lagen regungslos, oder sie wurden vom Chorgemurmel und Verneigungsrhythmus der gottesdienstlichen Handlung bezwungen und mitgerissen. Es war gelungen. Statt einer verzweifelten Horde von Verrückten stand da ein Volk von opfer und bußgewillten Andächtigen, deren jedem es wohltat und das Herz stärkte, seine Todesfurcht und sein Entsetzen nicht in sich zu verschließen oder für sich allein hinauszubrüllen, sondern im geordneten Chor der vielen, taktmäßig, sich einer beschwörenden Zeremonie einzuordnen. Viele geheime Mächte sind in einer solchen Übung wirksam, ihr stärkster Trost ist die Gleichförmigkeit, das Gemeinschaftsgefühl verdoppelnd, und ihre unfehlbarste Arznei ist Maß und Ordnung, ist Rhythmus und Musik.
    Während noch immer der ganze Nachthimmel vom Heer der fallenden Sternschnuppen wie von einer lautlos stürzenden Kaskade aus Lichttropfen bedeckt war, welche wohl zwei Stunden lang weiter ihre großen rötlichen Feuertropfen verschwendete, verwandelte das Grauen des Dorfes sich in Ergebung und Devotion, in Anrufung und Bußgefühl, und den aus ihrer Ordnung geratenen Himmeln trat die Angst und Schwäche der Menschen als Ordnung und kultische Harmonie entgegen. Noch ehe der Sternenregen anfing zu ermüden und dünner zu strömen, war das Wunder vollzogen und strahlte Heilkraft aus, und als
der Himmel langsam sich zu beruhigen und zu genesen schien, hatten die todmüden Büßer alle das erlösende Gefühl, mit ihrer Übung die Mächte besänftigt und den Himmel wieder in Ordnung gebracht zu haben.
    Die Schreckensnacht wurde nicht vergessen, man sprach noch den ganzen Herbst und Winter hindurch von ihr, aber bald tat man es schon nicht mehr flüsternd und beschwörend, sondern im alltäglichen Ton und mit der Genugtuung, welche auf ein brav bestandenes Unheil, eine mit Erfolg bekämpfte Gefahr zurückblickt. Man erlabte sich an den Einzelheiten, jeder war auf seine Weise von dem Unerhörten überrascht worden, jeder wollte es als erster entdeckt haben, über einige besonders Furchtsame und Überwältigte wagte man sich lustig zu machen, und noch lange hielt eine gewisse Angeregtheit im Dorfe vor: man hatte etwas erlebt, Großes war geschehen, es war etwas los gewesen!
    An dieser Stimmung und am allmählichen Abflauen und Vergessen des großen Ereignisses hatte Knecht keinen Teil. Für ihn blieb das unheimliche Erlebnis eine unvergeßliche Mahnung, ein

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