Das Glück der Familie Rougon - 1
hier auf diesem Grabstein, inmitten der unter dem üppigen Gras ruhenden Gebeine, jene Todessehnsucht eingesogen, jenen herben Wunsch, Seite an Seite in der Erde zu ruhen, wovon sie in dieser Dezembernacht auf der Straße nach Orchères stammelten, während die beiden Glocken ihre Klagerufe hin und her sandten.
Miette schlief friedlich, den Kopf auf Silvères Brust gebettet, während er an ihr zukünftiges Beisammensein dachte, an die schönen Jahre unaufhörlichen Entzückens. Bei Tagesgrauen erwachte das Mädchen. Vor ihnen dehnte sich das Tal ganz hell unter dem weißen Himmel. Noch stand die Sonne hinter den Hügeln. Eine kristallene Klarheit, durchsichtig und eisig wie Quellwasser, rann vom bleichen Horizont. In der Ferne verlor sich die Viorne wie ein weißes Atlasband zwischen roten und gelben Feldern. Es war ein grenzenloser Fernblick: graue Meere von Olivenpflanzungen, Weingärten wie riesige Stücke gestreiften Stoffes, eine ganze Landschaft, vergrößert durch die Reinheit der Luft und den Frieden der Kälte. Der Wind, der in kurzen Brisen kam, hatte die Gesichter der Kinder starr gemacht. Schnell erhoben sie sich jetzt, wieder munter und voller Freude über die Helle des Morgens. Und da die Nacht Angst und Traurigkeit mit sich genommen hatte, betrachteten sie mit entzückten Blicken das unermeßliche Rund der Ebene, hörten sie das Tönen der beiden Glocken, die ihnen den Morgen eines Festtages fröhlich einzuläuten schienen.
»Ach, wie gut ich geschlafen habe!« rief Miette. »Ich habe geträumt, du habest mich geküßt … Hast du mich geküßt, sag?«
»Das kann schon sein«, entgegnete Silvère lachend. »Mir war nicht gerade warm. Es ist eine Hundekälte.«
»Ich habe nur kalte Füße.«
»Nun, dann laß uns laufen … Wir haben zwei gute Meilen vor uns. Dabei wird dir wieder warm werden.«
Und sie stiegen den Abhang hinab und erreichten im Lauf die Straße. Unten angelangt, hoben sie den Kopf, als wollten sie dem Felsen Lebewohl sagen, auf dem sie geweint und sich dabei mit einem einzigen Kuß die Lippen verbrannt hatten. Doch sie sprachen nicht mehr von dieser heißen Liebkosung, die ein neues, noch unklares Verlangen, das sie nicht in Worte zu fassen wagten, in ihre Liebe gemischt hatte. Unter dem Vorwand, daß sie anders schneller gehen könnten, gingen sie nicht einmal Arm in Arm. Und sie schritten fröhlich voran, ein wenig verwirrt, ohne zu wissen, warum, wenn sie einander ansahen. Der Tag um sie her wurde immer heller. Der junge Bursche, den sein Meister zuweilen nach Orchères schickte, wählte mit Sicherheit die richtigen und kürzesten Pfade. So legten sie durch Hohlwege, an Hecken und endlosen Mauern entlang, mehr als zwei Meilen zurück. Miette beschuldigte Silvère, er führe sie in die Irre. Oft sahen sie ganze Viertelstunden lang nichts von der Landschaft, sie sahen nur über die Mauern und Hecken hinausragende lange Reihen von Mandelbäumen, deren dünne Zweige sich vom bleichen Himmel abhoben.
Plötzlich standen sie vor Orchères. Durch die klare Luft drang deutlich lautes Freudengeschrei und das Getöse einer Menschenmenge zu ihnen. Die Schar der Aufständischen hielt gerade ihren Einzug in die Stadt. Miette und Silvère betraten sie mit den Nachzüglern. Noch nie hatten sie eine derartige Begeisterung erlebt. In den Straßen sah es aus wie am Tage einer Prozession, wenn zu Ehren des Allerheiligsten unter dem Baldachin die Fenster mit den schönsten Behängen geschmückt sind. Man feierte die Aufständischen wie Befreier. Die Männer umarmten sie, die Frauen brachten ihnen Lebensmittel. Und auf mancher Türschwelle weinten Greise. Südliche Fröhlichkeit äußerte sich lärmend, singend, tanzend, gestikulierend. Als Miette vorbeikam, wurde sie in eine ungeheure Farandole mit hineingerissen, die sich auf dem Grand˜Place drehte. Silvère folgte ihr; Todesgedanken und Mutlosigkeit waren verflogen. Er wollte sich schlagen und sein Leben wenigstens teuer verkaufen. Der Gedanke an den Kampf berauschte ihn wieder. Er träumte vom Sieg, vom glücklichen Leben mit Miette im Frieden der Weltrepublik.
Dieser brüderliche Empfang durch die Einwohner von Orchères war die letzte Freude der Aufständischen. Sie verbrachten den Tag in strahlender Zuversicht, in unbegrenzter Hoffnung. Die Gefangenen, der Kommandant Sicardot, die Herren Garçonnet, Peirotte und die anderen, die man in einen Saal der Bürgermeisterei gesperrt hatte, dessen Fenster auf den Grand˜Place gingen, blickten mit
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