Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
Flügelschlag. Manchmal waren sie einfach traurig, von einer sanften Traurigkeit, und sie verstanden nicht, was die Toten von ihnen wollten. Sie lebten weiter in ihrer unwissenden Liebe inmitten dieses Stroms von Säften, in diesem verlassenen Friedhofswinkel, wo die fett gewordene Erde das Leben ausschwitzte und gebieterisch ihre Vereinigung forderte. Die summenden Stimmen, von denen ihnen die Ohren klangen, die plötzlichen Hitzewellen, die ihnen alles Blut ins Gesicht trieben, sprachen nicht deutlich zu ihnen.
    Es gab Tage, an denen die Stimmen der Toten so laut wurden, daß Miette, fiebernd und ermattet, halb auf dem Grabstein liegend, Silvère mit tränenerfüllten Augen ansah, als wolle sie ihn fragen: Was verlangen sie denn? Warum hauchen sie einen solchen Brand in meine Adern? Und Silvère, gebrochen, erschöpft, wagte nicht zu antworten, wagte nicht, die glühenden Worte zu wiederholen, die er in der Luft zu vernehmen glaubte, die tollen Ratschläge, die ihm die hohen Gräser gaben, das inbrünstige Flehen des ganzen grünen Ganges, der schlecht verschlossenen Gräber, die sich danach sehnten, der Liebe dieser beiden Kinder als Lager zu dienen.
    Oft befragten sie einander über die Knochenstücke, die sie fanden. Nach Frauenart schwärmte Miette für grausige Dinge. Bei jedem neuen Fund gab es Vermutungen ohne Ende. War der Knochen klein, so fabelte Miette von einem schönen, lungenkranken jungen Mädchen oder von einer Braut, die am Vorabend ihrer Hochzeit ein Fieber hinwegraffte; war es ein kräftiger Knochen, so träumte sie von einem hochgewachsenen Greis, einem Soldaten, einem Richter, irgendeinem fürchterlichen Menschen. Besonders der Grabstein beschäftigte die beiden lange. An einem schönen Mondscheinabend hatte Miette auf einer Fläche des Steins halbverwitterte Schriftzeichen entdeckt. Silvère mußte mit seinem Messer das Moos entfernen. Dann lasen sie die verstümmelte Inschrift: »Hier ruht … Marie … gestorben …« Und Miette war tief betroffen, als sie ihren Namen auf dem Grabstein fand. Silvère schalt sie: »Großes Dummchen!« Aber sie konnte ihre Tränen nicht zurückhalten. Sie sagte, sie habe einen Stich im Herzen gefühlt, sie werde bald sterben, dieser Grabstein sei für sie. Da fühlte sich auch der junge Mann wie erstarrt. Dennoch gelang es ihm, Miette dahin zu bringen, daß sie sich schämte. Wie? Sie, die so mutig war, konnte sich solche Kindereien ausdenken? Schließlich lachten sie. Später vermieden sie es, wieder davon anzufangen. Aber in Stunden der Schwermut, wenn der bewölkte Himmel den Gang verdüsterte, konnte Miette nicht umhin, den Namen dieser Toten zu nennen, dieser unbekannten Marie, deren Grab ihnen schon so lange ihre Stelldichein erleichtert hatte. Vielleicht waren die Gebeine des armen Mädchens noch hier. Eines Abends hatte Miette den sonderbaren Einfall, Silvère solle den Grabstein umdrehen, um zu sehen, was darunter sei. Er weigerte sich wie gegen die Schändung eines Heiligtums, und gerade diese Weigerung nährte Miettes Träumereien über das teure Geisterwesen, das ihren eigenen Namen trug. Sie behauptete steif und fest, jene Marie sei in ihrem Alter, mit dreizehn Jahren, gestorben, mitten aus einer Liebe heraus. Sie bedauerte sogar den Grabstein, denselben Stein, auf den sie so leichtfüßig sprang, auf dem sie oft gesessen hatten, den der Tod eiskalt gemacht und den sie mit ihrer jungen Liebe erwärmt hatten. Dann fügte sie hinzu: »Du wirst sehen, das bringt uns Unglück … Ich …, wenn du stürbest, würde ich hierherkommen, um auch zu sterben, und dann sollte man diesen Stein über meinen Leichnam wälzen.«
    Mit zugeschnürter Kehle schalt sie Silvère, weil sie an so traurige Dinge dachte.
    Und so liebten sie sich beinahe zwei Jahre lang, sei es in dem engen Gang, sei es in der weiten Flur. Ihr Idyll schritt durch die eisigen Dezemberregen und das glühende Drängen des Juli, ohne zur Schande niedriger Liebschaften abzugleiten; es bewahrte den köstlichen Zauber griechischer Sagen, seine brennende Reinheit, all das kindliche Stammeln begehrenden, aber noch unwissenden Fleisches. Die Toten, die alten Toten selber raunten vergeblich in ihr Ohr, und sie nahmen von dem früheren Friedhof nur eine ergriffene Schwermut mit, das unbestimmte Vorgefühl eines kurzen Lebens; eine Stimme sagte ihnen, daß sie mit ihrer keuschen Liebe dahinscheiden würden vor der Hochzeit, an dem Tag, an dem sie sich einander schenken wollten. Sicherlich hatten sie

Weitere Kostenlose Bücher