Das Glück der Familie Rougon - 1
bringen zu wollen, den Dienst, mit allen übrigen hinauszugehen.
Als Pierre mit dem Bruder allein war, fühlte er seine ganze Sicherheit zurückkehren.
»Sie haben mich wohl kaum erwartet, wie?« sagte er. »Jetzt verstehe ich: Sie haben mir in der eigenen Wohnung eine Falle gestellt. Unglückseliger! Nun sehen Sie, wohin Ihre Laster und Ausschweifungen Sie geführt haben!«
Macquart zuckte mit den Achseln.
»Lassen Sie mich in Ruhe«, antwortete er. »Sie sind ein alter Spitzbube. Wer zuletzt lacht, lacht am besten!«
Rougon, der hinsichtlich Antoines noch keinen bestimmten Plan gefaßt hatte, stieß ihn in einen Ankleideraum, wo sich Herr Garçonnet manchmal auszuruhen pflegte. Dieses Zimmer, das nur Oberlicht hatte, besaß keinen anderen Ausgang als die Tür. Es war mit ein paar Sesseln, einem Ruhebett und einem Waschtisch mit Marmorplatte ausgestattet. Pierre schloß die Tür doppelt ab, nachdem er die Handfessel seines Bruders gelockert hatte. Man hörte, wie dieser sich auf das Ruhebett warf und dröhnend das »Ça ira!«54 anstimmte, wie um sich in den Schlaf zu singen.
Als Rougon endlich allein war, setzte er sich in den Sessel des Bürgermeisters. Er seufzte auf und trocknete sich die Stirn. Wie schwer war es doch, Reichtum und Ehre zu erwerben! Endlich war er dem Ziel nahe; er fühlte, wie der weiche Sessel unter ihm nachgab, und streichelte mechanisch den Mahagonischreibtisch, dessen Politur ihm seidig und zart vorkam wie die Haut einer schönen Frau. Und er machte sich noch breiter; er nahm die gleiche würdige Haltung ein wie Macquart kurz zuvor bei der Verlesung des Aufrufs. Um ihn herum schien die Stille des Amtszimmers einen frommen Ernst anzunehmen, der seine Seele mit himmlischer Wonne erfüllte. Sogar der Geruch nach Staub und alten Papieren, die in den Ecken herumlagen, stieg ihm wie Weihrauch in die geblähten Nasenflügel. Dieser Raum mit der verblichenen Tapete, der nach kleinlichen Geschäften roch, nach den erbärmlichen Sorgen eines Stadtwesens dritten Ranges, war für ihn der Tempel, in dem er als Gott waltete. Irgend etwas Heiliges begann für ihn. Er, der im Grunde die Priester nicht mochte, erinnerte sich an die wunderbare Gefühlsaufwallung bei seiner Erstkommunion, als er den Leib des Heilands zu genießen glaubte.
Doch mitten in seiner Wonne fuhr er nervös zusammen, sooft Macquarts Stimme anschwoll. Die Wörter »Aristokrat«, »Laterne«, die Bedrohungen mit Erhängen erreichten ihn in heftigen Stößen durch die Tür und unterbrachen unangenehm seinen Siegestraum. Immer dieser Mensch! Und sein Traum, in dem ihm ganz Plassans zu Füßen lag, endete mit der plötzlichen Vision des Schwurgerichts, der Richter, der Geschworenen und des Publikums, die den beschämenden Enthüllungen Macquarts lauschten, der Geschichte von den fünfzigtausend Francs und anderen; oder er sah sich, wenn er gerade die weichen Polster von Herrn Garçonnets Sessel genoß, auf einmal an einer Laterne der Rue de la Banne baumeln. Wer nur könnte ihn von diesem elenden Kerl befreien? Endlich schlief Antoine ein, und Pierre genoß gute zehn Minuten reinen Entzückens.
Aus dieser Glückseligkeit rissen ihn Roudier und Granoux. Sie kamen vom Gefängnis, wohin sie die Aufständischen gebracht hatten. Es begann hell zu werden, die Stadt mußte bald erwachen, und es galt, einen Entschluß zu fassen. Roudier erklärte, vor allem wäre es gut, einen Aufruf an die Einwohner zu erlassen. Pierre war gerade dabei, den zu lesen, den die Aufständischen auf dem Tisch zurückgelassen hatten.
»Aber das paßt ja ausgezeichnet!« rief er aus. »Wir brauchen nur einige Worte zu ändern!«
Und wirklich genügte eine Viertelstunde, nach deren Verlauf Granoux mit bewegter Stimme vorlas:
»Einwohner von Plassans! Die Stunde des Widerstandes hat geschlagen; die Herrschaft der Ordnung ist zurückgekehrt …«
Man beschloß, den Aufruf in der Druckerei der »Gazette« drucken und ihn dann an allen Straßenecken anschlagen zu lassen.
»Und nun aufgepaßt!« sagte Rougon. »Wir gehen jetzt alle in meine Wohnung. Unterdessen wird Herr Granoux die Magistratsmitglieder hier versammeln, soweit sie nicht verhaftet wurden, und ihnen die furchtbaren Ereignisse dieser Nacht mitteilen.« Sodann fügte er mit Hoheit hinzu: »Ich bin durchaus gewillt, die Verantwortung für meine Handlungen zu übernehmen. Wenn das, was ich schon getan habe, als genügende Gewähr meiner Ordnungsliebe angesehen wird, bin ich bereit, mich an die Spitze
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