Das Glück der Familie Rougon - 1
öffnete.
»Bist du es, Cassoute?« fragte Macquart und unterbrach die Lesung.
Niemand antwortete, die Tür ging noch weiter auf.
»So komm doch herein!« fuhr er ungeduldig fort. »Ist der Halunke, mein Bruder, zu Hause?«
Da wurden plötzlich die beiden Flügel der Tür so heftig aufgestoßen, daß sie gegen die Wand schlugen, und eine Schar bewaffneter Männer, in ihrer Mitte zornesrot und mit hervorquellenden Augen Rougon, drang, ihre Gewehre wie Stöcke schwingend, ins Zimmer.
»Oh, die Schurken haben Waffen!« brüllte Macquart.
Er wollte nach einem Paar Pistolen greifen, die auf dem Schreibtisch lagen, doch schon hatten ihn fünf Mann an der Gurgel gepackt und hielten ihn fest. Die vier Verfasser des Aufrufs setzten sich einen Augenblick zur Wehr. Es gab Stöße, dumpfes Getrampel, den Aufprall stürzender Körper. Die Kämpfenden wurden besonders durch ihre Flinten behindert, die ihnen nichts nützten und die sie dennoch nicht loslassen wollten. Während des Gefechts ging die Flinte Rougons, die ihm ein Aufständischer entreißen wollte, mit einem fürchterlichen Knall von selbst los und erfüllte den Raum mit Rauch. Die Kugel zersplitterte einen prachtvollen Spiegel, der vom Kamin bis an die Decke reichte und als einer der schönsten Spiegel der Stadt galt. Dieser Schuß, von dem niemand wußte, weshalb er abgegeben worden war, betäubte alle und machte dem Kampf ein Ende.
Während die Herren allmählich wieder zu Atem kamen, hörte man drei Schüsse vom Hof her. Granoux lief an eins der Fenster des Amtszimmers. Die Gesichter wurden länger, und alle warteten ängstlich vorgebeugt und wenig darauf erpicht, den Kampf mit den Leuten aus der Wache, die man über dem Sieg ganz vergessen hatte, von neuem aufnehmen zu müssen. Doch die Stimme Roudiers rief herauf, daß alles in Ordnung sei. Granoux machte glückstrahlend das Fenster wieder zu. Tatsache war, daß der Schuß Rougons die Schläfer aufgeweckt hatte, die sich ergaben, weil sie einsahen, daß jeder Widerstand unmöglich war. Nur hatten, in dem blinden Drang, die Sache hinter sich zu bringen, drei Mann von den Leuten Roudiers, wie um auf die Detonation von oben zu antworten, in die Luft geschossen, ohne recht zu wissen, was sie taten. Es gibt Augenblicke, da in den Händen von Feiglingen die Gewehre von selbst losgehen.
Unterdessen ließ Rougon Macquarts Fäuste sicher mit den Gardinenhaltern der großen grünen Vorhänge des Amtszimmers fesseln. Antoine grinste höhnisch und weinte zugleich vor Wut: »Schon recht! Nur zu!« stotterte er. »Heute abend oder morgen, wenn die andern zurückkommen, werden wir miteinander abrechnen!«
Diese Anspielung auf die Aufständischen ließ den Siegern einen Schauer über den Rücken rieseln. Namentlich Rougon war die Kehle wie zugeschnürt. Sein Bruder, wütend darüber, daß er sich wie ein Kind von diesen schreckensbleichen Spießbürgern, die für ihn als alten Soldaten erbärmliche Zivilisten waren, hatte überrumpeln lassen, betrachtete ihn herausfordernd mit vor Haß funkelnden Augen.
»Oh, ich weiß schöne Geschichten von dir, ich weiß schöne Geschichten!« fuhr er fort, ohne Rougon aus den Augen zu lassen. »Bring mich nur vors Schwurgericht, damit ich den Richtern lustige Sachen erzähle!«
Rougon wurde fahl. Er hatte eine furchtbare Angst, Macquart könne reden und ihn um die Achtung der Herren bringen, mit deren Hilfe er soeben Plassans gerettet hatte. Diese Herren waren übrigens ganz verblüfft durch das dramatische Zusammentreffen der beiden Brüder und hatten sich, als sie sahen, daß es zu einer stürmischen Auseinandersetzung kommen würde, in eine Ecke des Zimmers zurückgezogen. Rougon faßte einen heldenmütigen Entschluß. Er trat auf die Gruppe zu und sprach in höchst würdigem Ton:
»Wir werden diesen Mann hierbehalten. Wenn er über seine Lage nachgedacht hat, wird er uns nützliche Aufschlüsse geben können.« Dann fuhr er mit noch würdevollerer Stimme fort: »Meine Herren, ich werde meine Pflicht erfüllen. Ich habe gelobt, die Stadt von der Anarchie zu retten, und ich werde sie erretten, sollte ich auch der Henker meines nächsten Anverwandten werden.«
Man hätte meinen können, einen alten Römer zu vernehmen, der seine Familie auf dem Altar des Vaterlandes opfert. Sehr bewegt drückte ihm Granoux die Hand, mit einer weinerlichen Miene, die besagte: Ich verstehe Sie, Sie sind wirklich erhaben! Dann leistete er ihm, unter dem Vorwand, die vier Gefangenen in den Hof
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