Das Glück der Familie Rougon - 1
den Postvorsteher festnahmen, dessen Amtsräume der Buchhandlung Vuillets benachbart waren. So hatte er sich gleich am Morgen, zur selben Stunde, da Rougon im Sessel des Bürgermeisters Platz nahm, in aller Ruhe im Amtszimmer des Postvorstehers eingerichtet. Er kannte die Angestellten und empfing sie bei ihrer Ankunft mit der Mitteilung, daß er ihren Vorgesetzten bis zu dessen Rückkehr vertrete und sie sich in keiner Weise zu beunruhigen brauchten. Später hatte er mit schlecht verhohlener Neugier die Frühpost durchstöbert; er beschnüffelte die Briefe und schien einen ganz besonders zu suchen. Zweifellos entsprach seine neue Stellung einem seiner geheimen Pläne, denn er ging in seiner Freude so weit, einem Angestellten ein Exemplar der »Übermütigen Schriften« von Piron55 zu schenken. Vuillet besaß ein sehr reich ausgestattetes Lager anstößiger Bücher, das er in einer großen Schublade unter einer Schicht von Rosenkränzen und Heiligenbildern verbarg. Kein anderer als er überschwemmte die Stadt mit unanständigen Photographien und Stichen, ebne daß dies im geringsten dem Absatz der Gebetbücher geschadet hätte. Im Lauf des Vormittags jedoch kamen ihm Bedenken über das Husarenstück, mit dem er sich des Postgebäudes bemächtigt hatte. Er wollte seine Amtsanmaßung bestätigen lassen. Und deshalb lief er zu Rougon, der entschieden eine wichtige Persönlichkeit geworden war.
»Wo sind Sie denn gewesen?« fragte Félicité mißtrauisch.
Da erzählte er seine Geschichte, die er selbstverständlich ausschmückte. Seiner Aussage nach hatte er die Post vor der Plünderung bewahrt.
»Gut, abgemacht! Bleiben Sie da!« sagte Pierre nach kurzem Überlegen. »Machen Sie sich nützlich.«
Dieser letzte Satz verriet die große Angst der Rougons: sie befürchteten, daß sich jemand allzu nützlich machen, die Stadt besser retten könnte als sie selber. Pierre sah keinerlei ernste Gefahr darin, Vuillet vorübergehend im Amt des Postvorstehers zu belassen; es war sogar ein Mittel, ihn sich vom Halse zu schaffen. Félicité aber gab durch eine rasche Bewegung ihre Mißbilligung zu verstehen.
Nachdem die vertrauliche Besprechung beendet war, mischten sich die Herren wieder unter die Gruppen, die den Salon füllten. Sie mußten endlich die allgemeine Neugier befriedigen und die Ereignisse des Vormittags haargenau berichten. Rougon war großartig. Er spann die Geschichte, die er seiner Frau erzählt hatte, noch weiter aus, verschönerte und dramatisierte sie. Die Verteilung der Flinten und Patronen verschlug allen den Atem. Aber der Marsch durch die leeren Straßen und die Einnahme des Rathauses zerschmetterte die Spießbürger förmlich vor Erstaunen. Bei jeder neuen Einzelheit gab es eine Unterbrechung.
»Und Sie waren nur einundvierzig? Das ist ja wunderbar!«
»Na, ich danke schön! Es muß höllisch finster gewesen sein!«
»Nein, ich muß gestehen, das hätte ich niemals gewagt!«
»Und dann haben Sie ihn einfach so an der Gurgel gepackt?«
»Und die Aufständischen, was haben die dazu gesagt?«
Diese kurzen Einwürfe stachelten jedoch Rougons Schwung nur noch an. Er antwortete allen. Er führte die ganze Begebenheit vor. In der Bewunderung seiner eigenen Heldentaten fand dieser behäbige Mann die Behendigkeit eines Schuljungen wieder: er kam auf dies und das zurück, wiederholte sich inmitten des Kreuzfeuers von Fragen, der Ausrufe des Erstaunens, der Privatunterhaltungen, die plötzlich bei der Erörterung einer Einzelheit entstanden, und wie vom Atem der Erzählung getragen, wuchs er über sich selbst hinaus. Außerdem standen ihm Granoux und Roudier zur Seite, die ihm Tatsachen zuraunten, kleine, unbedeutende Einzelheiten, die er ausgelassen hatte. Auch sie brannten darauf, ein Wörtchen anzubringen, eine Episode zu erzählen, und stahlen ihm hie und da das Wort vom Munde. Oder sie redeten alle drei gleichzeitig. Doch als Rougon, der die Heldentat mit dem zerbrochenen Spiegel als wirkungsvollen Schluß, als Krönung des Ganzen aufsparen wollte, sich anschickte, die Vorgänge unten im Hof bei der Festnahme des Postens zu erzählen, beschuldigte ihn Roudier, es schade dem Bericht, wenn er die Reihenfolge der Vorgänge verändere. Und sie stritten sich einen Augenblick mit ziemlicher Schärfe. Dann aber rief Roudier, der die günstige Gelegenheit für sich wahrnahm, entschlossen aus:
»Meinetwegen! Aber Sie waren ja nicht selbst dabei … Lassen Sie mich berichten …« Daraufhin erklärte er lang und
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