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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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verbreiteten und vor jeder Tür denselben Bericht wiederholten.
    Es war wie ein Lauffeuer; innerhalb weniger Minuten durchlief die Kunde die Stadt von einem Ende bis zum andern. Der Name Rougon flog von Mund zu Mund, begleitet von Ausrufen der Überraschung in der Neustadt, von lautem Lob in der Altstadt. Der Gedanke, ohne Unterpräfekt, ohne Bürgermeister, ohne Postvorsteher, ohne Steuerdirektor, ohne jegliche Art Obrigkeit zu sein, rief zunächst Bestürzung unter den Einwohnern hervor. Sie waren äußerst erstaunt darüber, daß sie ohne jede eingesetzte Behörde ihren Schlaf beenden und wie gewöhnlich hatten aufstehen können. Nachdem die erste Verblüffung vorüber war, warfen sie sich vertrauensvoll ihren Befreiern in die Arme. Die wenigen Republikaner zuckten mit den Achseln, doch die kleinen Kaufleute und Rentiers, die Konservativen jeder Gattung segneten diese bescheidenen Helden, deren Heldentaten die Finsternis der Nacht verborgen hatte. Als man erfuhr, daß Rougon seinen eigenen Bruder festgenommen hatte, kannte die Bewunderung keine Grenzen mehr; man sprach von einem zweiten Brutus57. Gerade diese Tatsache, deren Bekanntwerden Pierre gefürchtet hatte, gedieh ihm zum Ruhm. In dieser Stunde noch kaum überwundenen Schreckens war man einmütig dankbar. Man erkannte Rougon als Retter an, ohne Erörterungen.
    »Bedenken Sie nur«, sagten die Hasenfüße, »sie waren bloß einundvierzig!«
    Die Zahl Einundvierzig stellte die ganze Stadt auf den Kopf. So entstand in Plassans die Legende von den einundvierzig Bürgern, die dreitausend Aufständische hatten ins Gras beißen lassen. Lediglich einige neidische Geister aus der Neustadt, Rechtsanwälte ohne Prozesse, ehemalige Soldaten, die sich schämten, in dieser Nacht geschlafen zu haben, erhoben einige Zweifel. Kurz, die Aufständischen seien vielleicht von selber abgezogen. Es gebe keinerlei Beweise für einen Kampf, weder Leichen noch Blutspuren. Die Herren hätten wirklich leichte Arbeit gehabt.
    »Aber der Spiegel, der Spiegel!« wiederholten die Fanatiker. »Sie können doch nicht leugnen, daß der Spiegel des Herrn Bürgermeisters entzwei ist. Sehen Sie ihn sich doch selber an!«
    Und es gab tatsächlich bis in die Nacht hinein eine Prozession von Leuten, die unter tausend Vorwänden in das Arbeitszimmer des Bürgermeisters eindrangen, dessen Tür Rougon übrigens weit offen ließ. Sie pflanzten sich vor dem Spiegel auf, in den die Kugel ein rundes Loch geschlagen hatte, von dem breite Sprünge ausgingen; daraufhin flüsterten alle den gleichen Satz: »Alle Wetter, die Kugel hatte aber eine Mordswucht!« Und sie gingen überzeugt davon.
    An ihrem Fenster stehend, sog Félicité mit Wonne all diese lob und dankerfüllten Stimmen ein, die von der Stadt zu ihr herauf drangen. Augenblicklich beschäftigte sich ganz Plassans mit ihrem Gatten. Sie fühlte ordentlich, wie die beiden Stadtteile dort unten erschauderten, wie sie ihr die Hoffnung auf einen bevorstehenden Triumph herauf sandten. Ach, wie sie diese Stadt zertreten wollte, die sie so spät erst unter ihre Fersen bekam! Alles, was ihr Anlaß zur Klage gegeben hatte, stieg wieder in ihr auf, die hinter ihr liegenden Bitternisse verdoppelten ihre Gier nach unverzüglichem Genuß.
    Sie trat vom Fenster zurück und ging langsam durch den Salon. Hier hatten sich ihnen eben noch die Hände entgegengestreckt. Sie hatten gesiegt, die Bürgerschaft lag zu ihren Füßen. Der gelbe Salon kam ihr wie geweiht vor. Die wackligen Möbel, der abgeschabte Plüsch, der von Fliegenschmutz schwarze Kronleuchter, alle diese Trümmer wurden in ihren Augen zu ruhmvollen Überbleibseln, wie sie auf einem Schlachtfeld herumliegen. Die Ebene von Austerlitz58 hätte auf sie keinen tieferen Eindruck gemacht.
    Als sie wieder ans Fenster ging, entdeckte sie Aristide, der, die Nase in der Luft, auf dem Platz der Unterpräfektur umherschlenderte. Sie bedeutete ihm durch ein Zeichen, heraufzukommen. Er schien nur auf diese Aufforderung gewartet zu haben.
    »Komm doch herein!« forderte ihn seine Mutter auf, als sie sah, wie er auf dem Treppenabsatz zögerte. »Dein Vater ist nicht zu Hause.«
    Aristide hatte das linkische Benehmen eines verlorenen Sohnes. Seit nahezu vier Jahren hatte er keinen Fuß mehr in den gelben Salon gesetzt. Er trug den Arm noch in der Schlinge.
    »Tut deine Hand dir noch immer weh?« fragte Félicité spöttisch.
    Er wurde rot und antwortete verlegen:
    »Oh, es geht schon viel besser, sie ist beinahe

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