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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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der Anteilnahme dieser Herren dem Heldentum Rougons die Waage. Dieser Spiegel wurde zu einem lebendigen Wesen, und man sprach eine Viertelstunde lang von ihm unter Ausrufen des Mitleids und Ergüssen des Bedauerns, als sei er tödlich verwundet worden. Das war wirklich die Krönung des Ganzen, die Pierre so lange vorbereitet hatte, der dramatische Höhepunkt dieser wunderbaren Odyssee. Ein lebhaftes Stimmengemurmel erfüllte den gelben Salon. Man erzählte einander den soeben vernommenen Bericht noch einmal, und von Zeit zu Zeit löste sich einer der Herren aus seiner Gruppe, um von den drei Helden die genaue Darstellung irgendeiner umstrittenen Begebenheit zu erbitten. Die Helden berichtigten den betreffenden Vorfall mit peinlicher Genauigkeit, sie fühlten, daß sie für die Geschichte sprachen.
    Nun verkündeten Rougon und seine beiden Stellvertreter, daß man sie auf dem Bürgermeisteramt erwarte. Eine ehrfürchtige Stille trat ein; man grüßte einander mit ernstem Lächeln. Granoux barst vor Wichtigkeit: er allein hatte gesehen, wie jener Aufständische das Gewehr abdrückte und den Spiegel zertrümmerte; das verlieh ihm Größe, ließ ihn fast aus seiner Haut platzen. Als er den Salon verließ, nahm er mit der Miene eines großen Befehlshabers, der vor Erschöpfung zusammenbricht, Roudiers Arm und murmelte: »Seit sechsunddreißig Stunden bin ich auf den Beinen, und Gott weiß, wann ich ins Bett komme!«
    Rougon nahm beim Fortgehen Vuillet beiseite und sagte zu ihm, daß die Ordnungspartei mehr denn je auf ihn und auf die »Gazette« zähle. Er müsse einen schönen Artikel bringen, um die Bevölkerung zu beruhigen, und die Verbrecherbande, die Plassans durchzogen hatte, nach Gebühr brandmarken.
    »Seien Sie ohne Sorge!« antwortete Vuillet. »Die ›Gazette‹ sollte zwar erst morgen früh erscheinen, aber ich werde sie schon heute abend herausgehen lassen.«
    Als die drei gegangen waren, blieben die Stammgäste des gelben Salons noch einen Augenblick beisammen und schwatzten durcheinander wie Klatschbasen, die sich wegen eines entflogenen Kanarienvogels auf dem Bürgersteig versammeln. Diese früheren Kaufleute, Ölhändler und Hutmacher glaubten in einem Märchenstück mitzuspielen. Noch nie waren sie so durchgeschüttelt worden. Sie konnten sich gar nicht davon erholen, daß unter ihnen Helden wie Rougon, Granoux und Roudier erstanden waren. Als ihnen dann der Salon zu eng wurde und sie müde waren, sich immer wieder untereinander die gleiche Geschichte zu erzählen, gelüstete es sie heftig, die große Neuigkeit überall zu verbreiten; einer nach dem andern verschwanden sie, jeder vom Ehrgeiz getrieben, der erste zu sein, der alles wußte, alles berichten konnte. Und Félicité, allein zurückgeblieben, lehnte sich zum Fenster hinaus und sah, wie sie sich in der Rue de la Banne zerstreuten, aufgescheucht und mit den Armen schlagend wie große ausgemergelte Vögel mit ihren Flügeln, und wie sie dann die aufregende Geschichte in alle vier Himmelsrichtungen hinaustrompeteten.
    Es war zehn Uhr. Plassans war inzwischen erwacht, und man lief in den Straßen umher, bestürzt durch das aufkommende Gerücht. Diejenigen, die die Schar der Aufständischen gesehen oder gehört hatten, erzählten Räubermärchen, widersprachen einander, ergingen sich in gräßlichen Vermutungen. Doch die meisten wußten nicht einmal, worum es sich handelte; sie wohnten am Stadtrand und lauschten mit offenem Mund wie auf ein Ammenmärchen der Geschichte von mehreren tausend Banditen, die nachts die Straßen überschwemmt hatten und gleich einem Gespensterheer vor Tagesanbruch verschwunden waren. Die schlimmsten Zweifler sagten: »Ach, geht doch!« Einige Einzelheiten stimmten allerdings. So ließ sich denn Plassans schließlich davon überzeugen, daß ein fürchterliches Unglück an der Stadt vorübergezogen sei, ohne sie in ihrem Schlaf zu stören. Dieses undurchsichtige verhängnisvolle Geschehen erhielt durch das Dunkel der Nacht, durch die Widersprüche der verschiedenen Berichte etwas Ungreifbares, ein unergründliches Grauen, das die Tapfersten zum Zittern brachte. Wer hatte eigentlich den Blitzstrahl abgewendet? Das grenzte an ein Wunder. Man munkelte gerade von unbekannten Rettern, von einer kleinen Schar Männer, die der Hydra56 den Kopf abgeschlagen hätten, aber ohne irgendwelche Einzelheiten wie von etwas kaum Glaubhaftem, als sich die Stammgäste des gelben Salons in den Straßen zerstreuten, ihre Neuigkeiten

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