Das Glück der Familie Rougon - 1
breit, wie die Aufständischen erwacht waren und wie man sie aufs Korn genommen hatte, um sie unschädlich zu machen. Er fügte hinzu, glücklicherweise sei kein Blut geflossen. Dieser letzte Satz enttäuschte die Zuhörer, die auf ihre Leiche gerechnet hatten.
»Aber Sie hatten doch geschossen?« unterbrach Félicité, als sie sah, daß das Drama wirkungslos ausging.
»Ja, ja, drei Schüsse«, sagte der frühere Strumpfhändler. »Der Fleischermeister Dubruel, Herr Liévin und Herr Massicot haben mit sträflichem Eifer ihre Waffen abgefeuert.«
Als sich daraufhin ein Gemurmel erhob, fuhr er fort: »Ja, sträflich! Ich halte das Wort aufrecht. Der Krieg ist schon grausam genug, ohne daß man noch unnütz Blut vergießt. Ich hätte Sie an meiner Stelle sehen mögen … Übrigens haben mir diese Herren beteuert, daß es nicht ihre Schuld war; es ist ihnen unerklärlich, wieso ihre Flinten losgegangen sind … Und trotzdem ist eine verirrte Kugel von der Wand zurückgeprallt und hat einen blauen Fleck auf der Backe eines Aufständischen hervorgerufen.«
Der blaue Fleck, diese unverhoffte Verletzung, befriedigte die Zuhörer. Auf welcher Backe hatte er den blauen Fleck? Und wie kann eine Kugel, selbst eine verirrte, eine Backe treffen, ohne in sie einzudringen? Das gab Gelegenheit zu langen Erörterungen.
»Oben«, fuhr Rougon, so laut er konnte, fort, ohne der Erregung Zeit zu lassen, sich zu legen, »oben hatten wir furchtbar zu tun. Der Kampf war hart …« Und er schilderte sehr ausführlich die Festnahme seines Bruders und der vier anderen Aufständischen, ohne dabei Macquart zu nennen, den er mit »der Anführer« bezeichnete. Die Worte: »Das Amtszimmer des Herrn Bürgermeisters«, »der Amtssessel« und »der Schreibtisch des Herrn Bürgermeisters« kamen ihm alle Augenblicke über die Lippen und verliehen für die Zuhörer diesem schrecklichen Auftritt eine wunderbare Größe. Es war nicht mehr ein Kampf in der Pförtnerwohnung, sondern in den Räumen des ersten Beamten der Stadt. Roudier war übertrumpft. Endlich gelangte Rougon zu jener Episode, auf die er seit dem Beginn seines Berichtes hinarbeitete und die ihn fraglos als Helden herausstellen mußte. »Und jetzt«, sagte er, »stürzt sich ein Aufständischer auf mich. Ich schiebe den Amtssessel des Herrn Bürgermeisters beiseite, ich packe meinen Mann an der Gurgel. Und ich würge ihn, wie Sie sich denken können! Aber mein Gewehr behindert mich. Ich wollte es nicht loslassen; man läßt niemals seine Waffe im Stich. Ich hielt es so, unter den linken Arm geklemmt. Plötzlich geht der Schuß los …«
Die gesamte Zuhörerschaft hing an Rougons Lippen. Granoux spitzte den Mund in dem unbändigen Gelüst, zu Worte zu kommen, und schrie dazwischen:
»Nein, nein, so ist das nicht gewesen! – Sie haben es ja nicht sehen können, mein Freund, Sie schlugen sich ja wie ein Löwe … Aber ich, der ich gerade half einen Gefangenen fesseln, ich habe alles gesehen … Der Mann wollte Sie umbringen; er, er hat die Flinte abgeschossen. Ich habe ganz genau gesehen, wie er seine schwarzen Finger unter Ihrem Arm durchschob …«
»Glauben Sie wirklich?« fragte Rougon erbleichend. Er wußte nicht, daß er in einer solchen Gefahr geschwebt hatte, und die Erzählung des ehemaligen Mandelhändlers ließ ihn vor Schreck erstarren.
Im allgemeinen log Granoux nicht; doch am Tage einer Schlacht ist es wohl erlaubt, die Dinge in dramatischem Licht zu sehen.
»Wenn ich es Ihnen doch sage, der Mann wollte Sie umbringen«, wiederholte er mit Überzeugung.
»Darum also«, sagte Rougon mit erloschener Stimme, »habe ich die Kugel an meinem Ohr vorbeipfeifen hören.«
Eine heftige Bewegung entstand im Saal; die Zuhörerschaft schien von Ehrfurcht vor diesem Helden ergriffen zu sein. Er hatte gehört, wie eine Kugel an seinem Ohr vorbeipfiff! Fürwahr, keiner seiner Mitbürger hier im Salon hätte das von sich sagen können. Félicité hielt es für angebracht, sich ihrem Gatten in die Arme zu werfen, um die Rührung der Versammlung auf die Spitze zu treiben.
Doch Rougon machte sich hastig los und beendete seine Schilderung mit folgendem heroischen Satz, der in Plassans berühmt geblieben ist:
»Der Schuß geht los, ich höre die Kugel an meinem Ohr vorbeipfeifen, und paff! – die Kugel zerschmettert den Spiegel des Herrn Bürgermeisters.«
Man war entsetzt. Ein so schöner Spiegel! Wirklich unglaublich! Das Unglück, das dem Spiegel widerfahren war, hielt hinsichtlich
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