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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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spräche er mit sich selbst: »Solche Gesichter habe ich sonst nur bei Ermordeten gesehen, die im größten Entsetzen gestorben sind … Sie muß irgendeine schreckliche Aufregung gehabt haben.«
    »Aber wie ist denn der Anfall gekommen?« fragte Rougon ungeduldig, weil er nicht mehr wußte, wie er aus dem Zimmer gelangen sollte.
    Pascal wußte es nicht.
    Macquart, der sich gerade ein neues Gläschen eingoß, berichtete, er habe Lust gehabt, ein bißchen Kognak zu trinken, und habe sie weggeschickt, eine Flasche voll zu holen. Sie sei nur sehr kurz fortgewesen und dann, als sie zurückkam, steif auf den Boden gefallen, ohne ein Wort zu sagen. Er, Macquart, habe sie auf ihr Bett tragen müssen.
    »Mich wundert nur«, sagte er abschließend, »daß sie die Flasche nicht zerschlagen hat.«
    Der junge Arzt überlegte. Nach kurzem Schweigen erzählte er: »Ich habe zwei Schüsse gehört, als ich hierherkam. Vielleicht haben die Elenden wieder ein paar Gefangene erschossen. Wenn sie in diesem Augenblick durch die Reihen der Soldaten gekommen ist, hat möglicherweise der Anblick des Blutes diesen Anfall ausgelöst … Sie muß entsetzlich gelitten haben.« Glücklicherweise hatte er die kleine Taschenapotheke da, die er seit dem Aufbruch der Aufständischen bei sich zu tragen pflegte. Er versuchte, Tante Dide einige Tropfen einer rötlichen Flüssigkeit zwischen die fest aufeinandergebissenen Zähne zu flößen.
    Währenddessen fragte Macquart seinen Bruder abermals:
    »Hast du das Geld?«
    »Ja, ich habe es mitgebracht; wir wollen jetzt die Sache regeln«, antwortete Rougon, froh über diese Ablenkung.
    Als Macquart sah, daß er bezahlt werden sollte, begann er zu jammern. Er habe die Folgen seines Verrats zu spät erkannt, andernfalls würde er die zwei oder dreifache Summe verlangt haben. Und er beschwerte sich. Wahrhaftig, tausend Francs, das war nicht genug. Seine Kinder hatten ihn verlassen, er war allein auf der Welt und mußte fort aus Frankreich. Es fehlte nicht viel daran, daß er in Tränen ausgebrochen wäre, als er von seiner Verbannung sprach.
    »Zur Sache jetzt! Wollen Sie die achthundert Francs?« fragte Rougon, der es eilig hatte, fortzukommen.
    »Nein, wirklich, die doppelte Summe. Deine Frau hat mich reingelegt. Hätte sie mir unverblümt gesagt, was sie von mir erwartete, würde ich mich nie für so wenig Geld solchen Unannehmlichkeiten ausgesetzt haben.«
    Rougon legte die achthundert Francs in Gold nebeneinandergereiht auf den Tisch.
    »Ich schwöre Ihnen, daß ich nicht mehr besitze«, nahm er wieder das Wort. »Ich werde später an Sie denken. Aber, um Himmels willen, machen Sie, daß Sie heute abend fortkommen.«
    Macquart trug, schimpfend und halblaute Klagen herausknirschend, den Tisch ans Fenster und begann im schwindenden Dämmerlicht die Goldstücke zu zählen. Er ließ die einzelnen Stücke von oben herabfallen; sie kitzelten ihm wonnig die Fingerspitzen, und ihr Klirren erfüllte das Dunkel mit heller Musik. Einen Augenblick unterbrach er sich, um zu sagen:
    »Du hast mir eine Stelle versprechen lassen, vergiß das nicht! Ich will nach Frankreich zurück … Eine Stelle als Flurhüter wäre mir nicht unlieb, in einer guten Gegend, die ich mir selber aussuchen würde …«
    »Jaja, abgemacht!« erwiderte Rougon. »Haben Sie also die achthundert Francs?«
    Macquart begann von neuem zu zählen. Die letzten Goldstücke klimperten, als ein gellendes Gelächter die beiden veranlaßte, sich umzusehen.
    Tante Dide stand aufrecht vor dem Bett, mit offenem Kleid und aufgelösten Haaren, das bleiche Gesicht voll roter Flecke. Pascal hatte vergebens versucht, sie zurückzuhalten. Mit ausgebreiteten Armen, von einem furchtbaren Schauer geschüttelt, wiegte sie den Kopf; sie redete irre.
    »Das Blutgeld! Das Blutgeld!« rief sie immer wieder. »Ich habe das Gold gehört … Und sie, sie haben ihn verkauft. Oh, diese Mörder! Wölfe sind sie!« Sie strich das Haar zurück und fuhr sich mit den Händen über die Stirn, als wolle sie in ihrem Innern lesen. Dann fuhr sie fort: »Ich sah ihn schon lange, die Stirn von einer Kugel durchbohrt. Immer waren Leute in meinem Kopf, die ihm mit Flinten auflauerten. Sie machten mir Zeichen, daß sie schießen würden … Es ist fürchterlich, ich fühle, wie sie mir die Knochen zerbrechen und den Schädel aushöhlen. Ach! Gnade! Gnade! – Ich flehe euch an; er soll sie nicht mehr sehen, er soll sie nicht mehr lieben, nie mehr! Ich werde ihn einsperren, ich werde ihn

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