Das Glück der Familie Rougon - 1
war, die Zinsen des Kapitals, das er in ihre Erziehung gesteckt hatte. Und nun mußte der Gedanke an diesen elenden Silvère ihm die Stunde des Triumphs trüben!
Während Félicité unterwegs war, um das Nötige für die Abendgesellschaft zu besorgen, erfuhr Pierre von der Ankunft der Truppe und entschloß sich, Erkundigungen einzuziehen. Sicardot, den er bei seiner Rückkehr gefragt hatte, wußte nichts: Pascal war wohl zur Pflege der Verwundeten zurückgeblieben, und was Silvère betraf, so hatte ihn der Kommandant, der ihn nur oberflächlich kannte, nicht einmal gesehen. Rougon begab sich in die Vorstadt mit dem Vorsatz, bei dieser Gelegenheit Macquart die achthundert Francs auszuhändigen, die er nur mit vieler Mühe zusammengebracht hatte. Aber als er sich in der lärmenden Menschenmenge des Lagers befand, als er von weitem die Gefangenen sah, die in langen Reihen auf den Balken des SaintMittreHofes saßen, von Soldaten mit schußbereitem Gewehr bewacht, bekam er Angst, sich zu kompromittieren, und schlich verstohlen zu seiner Mutter, in der Absicht, die alte Frau nach Nachrichten auszuschicken.
Als er das alte Häuschen betrat, war es schon fast dunkel. Zunächst sah er nur Macquart, der rauchte und ein Gläschen nach dem andern trank.
»Bist du˜s? Das trifft sich gut«, murmelte Antoine, der seinen Bruder wieder duzte. »Mir wird die Zeit hier verdammt lang. Hast du das Geld?«
Aber Pierre antwortete nicht. Er hatte soeben seinen Sohn Pascal bemerkt, der sich über das Bett beugte. Er fragte ihn hastig aus. Der Arzt, überrascht von dieser Besorgtheit, die er anfangs der Vaterliebe zuschrieb, antwortete ihm ruhig, daß ihn die Soldaten ergriffen hätten und ihn auch erschossen haben würden, wenn nicht ein braver Mann, den er gar nicht kenne, für ihn eingetreten wäre. Durch seinen Doktortitel gerettet, sei er mit der Truppe zurückgekehrt. Das war eine große Erleichterung für Rougon. Wieder einer, der ihm keine Schande machte. Er bekundete seine Freude durch wiederholte Händedrücke, als Pascal mit trauriger Miene schloß:
»Freuen Sie sich nicht zu sehr. Ich finde eben meine arme Großmutter in äußerst ernstem Zustand. Ich brachte ihr diese Flinte zurück, an der sie hängt, und sehen Sie, sie lag da und rührte sich nicht mehr.«
Pierres Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Nun sah er beim letzten Tagesschein Tante Dide steif und wie tot auf ihrem Bett. Dieser arme Körper, den seit der Wiege Nervenkrämpfe zerrütteten, war nun von einem letzten Anfall niedergeworfen worden. Die Nerven hatten gleichsam das Blut aufgebraucht! Die geheime Arbeit der heißen Leidenschaften ihres Leibes, der sich selber erschöpft und sich in später Enthaltsamkeit verzehrt hatte, war vollendet und machte aus der Unglücklichen einen Leichnam, dem nur noch elektrische Zuckungen ein scheinbares Leben verliehen. Jetzt schien ein grausamer Schmerz die langsame Auflösung ihres Daseins beschleunigt zu haben. Ihre nonnenhafte Blässe, die Blässe einer durch den Schatten und die Entbehrungen klösterlichen Lebens zermürbten Frau, bedeckte sich mit roten Flecken. Mit verzerrtem Gesicht, mit entsetzlich aufgerissenen Augen und nach außen gekehrten, verkrümmten Händen lag sie in ihren Kleidern da, die in harten Linien die Magerkeit ihrer Glieder abzeichneten. Und die Lippen fest aufeinandergepreßt, verbreitete sie dort hinten in dem dunklen Zimmer das Grauen eines stummen Todeskampfes.
Rougon machte eine ärgerliche Bewegung. Dieses herzzerreißende Schauspiel war ihm sehr unangenehm; er hatte diesen Abend Gäste zum Diner und hätte sehr bedauert, traurig sein zu müssen. Daß seiner Mutter auch nichts Besseres einfallen konnte, als ihn in Verlegenheit zu bringen! Sie hätte sich gut einen anderen Tag aussuchen können! Er setzte also eine völlig beruhigte Miene auf und meinte:
»Ach was, das wird so schlimm nicht sein. Ich habe sie hundertmal so gesehen. Man muß sie sich ausruhen lassen, das ist das beste Mittel.«
Pascal schüttelte den Kopf.
»Nein«, murmelte er, »dieser Anfall ist nicht so wie die andern. Ich habe sie oft beobachtet und niemals solche Symptome festgestellt. Sehen Sie doch ihre Augen an; sie sind von einer eigenartigen Durchsichtigkeit, haben einen blassen, sehr beunruhigenden Glanz. Und dieses verzerrte Gesicht. Was für eine fürchterliche Verkrampfung aller Muskeln!« Dann beugte er sich noch tiefer, durchforschte die Gesichtszüge aus nächster Nähe und fuhr flüsternd fort, als
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