Das Glück der Familie Rougon - 1
hindern, sich an ihre Röcke zu hängen. Nein! Gnade! Nicht schießen … Ich kann nichts dafür … Wenn ihr wüßtet …« Weinend und flehend war sie fast in die Knie gesunken und streckte ihre armen zitternden Hände nach einer kläglichen Erscheinung aus, die sie im Dunkel gewahrte. Und plötzlich richtete sie sich wieder auf, ihre Augen wurden noch größer, ihrer verkrampften Kehle entfuhr ein grauenhafter Schrei, als erfülle ein nur ihr sichtbares Schauspiel sie mit einem wahnsinnigen Schrecken.
»Oh, der Gendarm!« sagte sie erstickend, wich zurück und sank wieder auf ihr Bett, wo sie sich unter lang anhaltendem, furchtbar klingendem Gelächter wälzte.
Pascal folgte dem Anfall mit aufmerksamem Blick. Die beiden Brüder, die nur unzusammenhängende Sätze erfaßt hatten, waren zu Tode erschrocken in eine Ecke des Zimmers geflüchtet.
Als Rougon das Wort »Gendarm« hörte, glaubte er zu verstehen; seit man an der Grenze ihren Liebsten umgebracht hatte, hegte Tante Dide unterschiedslos einen tiefen Haß und Rachegedanken gegen alle Gendarmen und Zollwächter.
»Aber was sie uns da erzählt, ist ja die Geschichte des Wilderers«, murmelte er.
Pascal bedeutete ihm durch ein Zeichen, daß er schweigen solle.
Die Sterbende richtete sich mühsam wieder auf. Ganz benommen sah sie um sich. Einen Augenblick blieb sie stumm und versuchte die Gegenstände zu erkennen, als befände sie sich an einem fremden Ort. Dann fragte sie mit plötzlich aufsteigender Unruhe:
»Wo ist die Flinte?«
Der Arzt gab ihr das Gewehr in die Hand.
Sie stieß einen schwachen Freudenschrei aus, betrachtete es lange und sagte dann leise, mit der singenden Stimme eines kleinen Mädchens:
»Sie ist es! Oh, ich erkenne sie wieder … Sie ist ganz mit Blut befleckt. Heute sind die Flecke frisch … Seine roten Hände haben blutige Streifen auf dem Kolben zurückgelassen … Ach, arme, arme Tante Dide!« Ihr kranker Kopf verwirrte sich von neuem. Sie wurde nachdenklich. »Der Gendarm war tot«, murmelte sie, »und ich habe ihn gesehen, er ist wiedergekommen … Diese Halunken sterben nie!« Und aufs neue von grimmiger Wut gepackt, schwenkte sie die Flinte und kam auf ihre beiden Söhne zu, die stumm vor Schrecken sich in die Ecke drückten. Ihre aufgeknöpften Kleider schleiften hinter ihr her; ihr verkrümmter Körper richtete sich empor, halbnackt, entsetzlich eingefallen durch das Alter. »Ihr seid˜s, ihr habt geschossen!« schrie sie. »Ich habe das Gold gehört … Ich Unglückselige! Ich habe nur Wölfe zur Welt gebracht … eine ganze Familie, einen ganzen Wurf Wölfe … Nur ein einziges armes Kind war darunter, und das haben sie gefressen, jeder hat seine Zähne hineingeschlagen, ihre Lippen triefen noch von Blut … Oh, die Verfluchten! Sie haben gestohlen, sie haben gemordet. Und sie leben wie feine Herren. Verfluchte! Verfluchte! Verfluchte!« Sie sang, sie lachte, sie kreischte und wiederholte ihr »Verfluchte!« in einer seltsamen Melodie, die dem ohrenzerreißenden Lärm einer Gewehrsalve glich.
Mit Tränen in den Augen nahm Pascal sie in die Arme und brachte sie wieder zu Bett.
Sie ließ es mit sich geschehen wie ein Kind. Sie fuhr in ihrem Gesang fort, beschleunigte den Rhythmus und schlug mit ihren dürren Händen auf der Bettdecke den Takt dazu.
»Das eben habe ich befürchtet«, sprach der Arzt, »sie ist wahnsinnig geworden. Der Schock war zu hart für ein armes Wesen, das wie sie zu akuten Nervenstörungen neigt. Sie wird in einer Irrenanstalt enden wie ihr Vater.«
»Was hat sie denn aber sehen können?« fragte Rougon, der sich jetzt entschloß, aus der Ecke hervorzukommen, in der er sich versteckt hatte.
»Ich habe einen furchtbaren Verdacht«, antwortete Pascal. »Ich wollte gerade über Silvère mit Ihnen reden, als Sie kamen. Er ist gefangen. Man muß beim Präfekten Schritte für ihn unternehmen und ihn retten, wenn es noch nicht zu spät ist.«
Der ehemalige Ölhändler sah erbleichend seinen Sohn an. Dann erwiderte er lebhaft:
»Hör mal, gib du acht auf sie. Ich habe heute abend zu viel zu tun. Morgen wollen wir dann sehen, daß sie nach Les Tulettes in die Irrenanstalt gebracht wird. Sie, Macquart, müssen noch heute nacht fort. Sie müssen es mir schwören. Ich gehe jetzt zu Herrn de Blériot.« Er stotterte; er konnte es nicht erwarten, in die Straßenkälte hinauszukommen.
Pascal heftete einen durchdringenden Blick auf die Irre, auf seinen Vater, auf seinen Onkel; der Egoismus des Forschers
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