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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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behielt die Oberhand; er studierte diese Mutter und diese Söhne mit der Aufmerksamkeit eines Naturwissenschaftlers, der zufällig ein Insekt bei seiner Metamorphose überrascht. Und er dachte, wie die Triebe einer Familie aus einem Stamm, der verschiedene Zweige aussendet und dessen herber Saft die gleichen Keimanlagen in die entferntesten Verästelungen trägt, eine ganz verschiedene Gestalt bekommen, je nachdem, was sie an Schatten oder an Sonne trifft. Er vermeinte einen Augenblick, wie von einem Blitz erhellt, die Zukunft der RougonMacquarts zu schauen, eine Meute zügelloser Begierden, die in einem Flammenmeer von Gold und Blut Sättigung finden.
    Indes hatte Tante Dide beim Namen Silvères aufgehört zu singen. Ängstlich lauschte sie eine kleine Weile. Dann begann sie ein furchtbares Geheul auszustoßen. Die Nacht war jetzt ganz herabgesunken, das völlig dunkle Zimmer war eine jammererfüllte Höhle. Die Schreie der Irren, die man jetzt nicht mehr sah, klangen aus der Finsternis wie aus einem geschlossenen Grab.
    Rougon hatte den Kopf verloren und floh, verfolgt von diesem Lachgeheul, das in der Dunkelheit noch grauenvoller schluchzte.
    Als er gerade zögernd aus dem SaintMittreSackgäßchen trat und sich fragte, ob es nicht gefährlich sei, den Präfekten um Gnade für Silvère zu bitten, sah er Aristide, der um den Holzhof herumstrich. Als dieser seinen Vater erkannte, lief er mit besorgter Miene herbei und flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr. Pierre erbleichte; er warf einen verstörten Blick in den Hintergrund des Hofes, in jenes Dunkel, in das nur das Lagerfeuer der Zigeuner einen hellen roten Fleck setzte. Und dann verschwanden sie alle beide mit beschleunigten Schritten, als hätten sie gemordet, durch die Rue de Rome und schlugen den Mantelkragen hoch, um nicht erkannt zu werden.
    »Das erspart mir einen Weg«, murmelte Rougon. »Gehen wir essen. Wir werden erwartet.«
    Als sie ankamen, strahlte der gelbe Salon im Lichterglanz. Félicité hatte sich selber übertroffen. Alle waren sie da: Sicardot, Granoux, Roudier, Vuillet, die Ölhändler, die Mandelhändler, die ganze Schar. Nur der Marquis hatte sich mit seinem Rheumatismus entschuldigt, überdies sei er im Begriff, eine kleine Reise anzutreten. Diese blutbefleckten Spießbürger verletzten sein Zartgefühl, und sein Verwandter, der Graf de Valqueyras, mußte ihn wohl gebeten haben, sich in Vergessenheit zu bringen, indem er eine Zeitlang auf dessen Gut Corbière lebte. Die Absage des Herrn de Carnavant ärgerte die Rougons. Doch Félicité tröstete sich mit dem Vorsatz, einen noch größeren Luxus zu entfalten; sie lieh sich zwei Kandelaber und bestellte zwei Vor und Zwischenspeisen mehr, um dadurch den Marquis zu ersetzen. Um das Mahl feierlicher zu gestalten, wurde die Tafel im Salon gedeckt. Das Hotel de Provence hatte das Silberzeug, das Porzellan, das Kristall gestellt. Um fünf Uhr schon war fertig gedeckt, damit sich die Gäste gleich bei der Ankunft an dem Anblick weiden konnten. Und an beiden Enden standen auf dem weißen Tafeltuch zwei Sträuße künstlicher Rosen in Vasen aus vergoldetem, mit Blumen bemaltem Porzellan.
    Als die Stammgäste des Salons beisammen waren, vermochten sie ihre Bewunderung für ein derartiges Schauspiel nicht zu verbergen. Die Herren lächelten verlegen und wechselten heimliche Blicke, die deutlich besagten: Diese Rougons sind ja verrückt, sie werfen ihr Geld zum Fenster hinaus! Tatsächlich hatte Félicité, als sie ihre Gäste einladen ging, ihre Zunge nicht im Zaum halten können. Alle Welt wußte, daß Pierre das Kreuz der Ehrenlegion bekommen und zu irgend etwas ernannt werden sollte, was, wie die alte Frau sich ausdrückte, die Nasen seltsam lang werden ließ. Roudier meinte nachher: »Diese schwarze Person bläht sich doch allzusehr auf!« Diese Bande von Kleinbürgern, die über die sterbende Republik hergefallen waren, die einander beobachtet und es sich zur Ehre angerechnet hatten, wenn sie ihr einen derberen Hieb versetzten als der Nachbar, fand es jetzt nicht in der Ordnung, daß ihre Gastgeber, am Tage der Belohnung, alle Lorbeeren der Schlacht einheimsen sollten. Sogar diejenigen, die nur, weil es nun einmal in ihrer Natur lag, geschrien hatten, ohne irgend etwas von dem kommenden Kaiserreich zu verlangen, waren tief gekränkt, als sie sahen, daß dank ihrer Haltung der Ärmste, der Anrüchigste von allen das rote Bändchen im Knopfloch tragen sollte. Hätte man wenigstens den ganzen Salon

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