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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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Gregor. Sie spielten ein altes Ehepaar und schauten sich beim Alten-Ehepaar-Spielen zu. Am siebten Tag seiner Anwesenheit auf dem Grundstück – alles Tage mit hellblauem Himmel, klarer Luft, keinem Regen – riß sie sich nicht mehr zusammen. Sie überreichte ihm einen Becher Kaffee am Morgen und sagte: »Wenn du es hier so schrecklich findest, dann ist es wohl an der Zeit, daß du abreist.«
    »Ich hätte eine Bitte an dich«, erwiderte er ungerührt.
    »Ja?«, fragte sie hoffnungsvoll.
    Sie hatte lange ignoriert, daß sie alt wurde, jetzt war sie es. Das Rätsel war intellektuell nicht zu bewältigen. Sie fühlte sich wie die junge Frau, die sie gewesen war, als sie Gregor hatte gehen und sich von Michael hatte heiraten lassen, aber im Badezimmerspiegel sah sie aus, wie eine Frau mit über Mitte fünfzig eben aussieht. Die Zeit nahm die Unterfütterung, das Wasser, als ernähre sie sich kontinuierlich davon. Übrig blieb die gefaltete Haut, Desertifikation, nichts anderes als das, was hier mit dem Boden passierte.
    Sie suchte die Utensilien zusammen, duschte, zog ein engeres, knielanges Jerseykleid an, schloß den Gürtel, warf sich eine gleichlange Strickjacke über und ging zurück in die Küche.
    Gregor übergab ihr die Schere, die er gefunden hatte. Sie schaute ihm ins Gesicht, soweit sie es unter dem Bart sehen konnte. Sein Blick war ohne Regung, sein Mund kaum sichtbar. Sie tat sehr ernsthaft und konzentriert, dabei hatte eine fast kindliche Freude sie im Griff.
    Er blieb unnahbar, beugte sich nur ihren Anweisungen. Auf den Tisch setzen, Handtuch über die Schultern. Dann knickte sie vor ihm ein, setzte die Schere an und schnitt von den flauschigen Backen in Richtung Kinn schurwollfarbene Knäule aus spinnenbeindürren Haaren ab. Er atmete sehr ruhig, er schritt nicht ein.
    Langsam schälte sie den alten Gregor heraus. Sie traute sichauch während dieser Arbeit nicht, ihn nach seiner Zeit, seinem Leben zu befragen. Es hing zusammen mit dem Brief und ihrer unterlassenen Hilfeleistung. Sie ahnte, daß sie wieder durch ihr Schweigen einen Menschen von sich wegstoßen würde, aber sie konnte nichts dagegen machen. Ihr kam nichts über die Lippen. Ihr gingen so Sätze durch den Kopf wie, daß in einer Welt ohne Grenzen nur ihre Angst der letzte Schlagbaum sei, aber sie waren unaussprechbar, viel zu viel. Senta schnitt und schnitt, sie arbeitete sich immer näher an Gregors Gesichtshaut heran, die fast farblos war und von der sie sich wünschte, sie könne hier bräunen, sich erholen, unterfüttert werden. Sie brachte seine Lippen zum Vorschein, seine Wangenknochen, seinen Hals. Er schloß die Augen und gab keine Antwort auf ihre Fragen: Bis hierhin? Weiter? Noch weiter?
    »Ich hab Hunger, laß uns was essen«, sagte er nur irgendwann, als sie seine Geschichte alles in allem auf einen eher modischen Drei-Tage-Bart zurückgestutzt hatte.
    Da saß sie nun, in ihrem Jerseykleid, der weiten Strickjacke, einen getöpferten Trinkbecher in der Hand, nicht mehr jung, nicht mehr ansehnlich, ihr Hinterteil zwar schmalgehungert, aber es hing, es trug jetzt auch noch das Muster des Korbstuhls, auf dem sie gesessen hatte. Im abklingenden Gesang der Zikaden, in der sich verflüchtigenden Lauwärme des Spätnachmittages saß sie da und wußte nicht, wie die Scham überwinden, die aus den vielen Jahren der Fremdheit erwuchs. Sie begriff, vielleicht erstmals, was es bedeutete, jemanden zu lieben. Man war ein schwacher, bedürftiger Mensch. Es gab keinen Zauber, keine Erinnerung, die sie über diese Realität hätte hinwegtäuschen können. Es gab nur ihr Alter und sein Alter, einen unbeantworteten Brief und die lange Geschichte ihrer parallelen Leben. Vielleicht war selbst das schon eine Illusion.
    Es dämmerte, die Luft war klar, als riesele Silberpulver durch sie hindurch, die Dunkelheit kündigte sich damit an, daß die Schatten verschwanden. Dann wurden die Dinge, Pflanzen, Mauern, selbst die Geräusche flacher, als schälten sie sich zurück in einen Zustand der Normalität. Die Sonne verschwand. Genauso wie die Pflanzen konnte Senta sich erst abends in etwas hineinbegeben, das jenseits der Selbstbehauptung lag, der Selbstbehauptung in der Hitze, eine Entspannung, die sie immer zu feiern wünschte.
    Sie schaltete zuerst das Licht in der Vorratskammer ein und schaute sich um. Sie hörte kein Rascheln, sie roch keine Feinde, sie griff nach einer Flasche, die unten im Weinregal lag. Im Gefühl, das Ende von sieben Tagen

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