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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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Inmitten der Stadt, die sich einmal umzuwälzen schien. Drei Tage, mehr als drei Tage wollte sie nicht hier sein, sonst drohte etwas, das sie nicht genau benennen konnte. Natürlich hatte es mit Heimweh zu tun, mit der Sehnsucht nach dem Ort, an dem sie aufgewachsen war. Es war ein Sog, eher einem Schwamm ähnlich, der sie in ihrem flüssigen, durchlässigen Zustand sofort in sich aufnehmen und restlos absorbieren könnte. Ins West-Berliner Eckhaus, in den verschlafenen Grunewald aber wollte sie auf keinen Fall zurück. Und auch in dem vormals abgetrennten Teil des Landes hatte sie nichts zu suchen, in der doch eher billigen Hoffnung, eine alte Geschichte zu wiederholen.
    Sie wanderte in das Restaurant im Parterre des Hotels, dort ging es noch sozialistisch zu. Die Kellnerin war bildhübsch. Ihr Körper, jede Nuance ihrer Mimik sagte, wo sie jetzt gerade sein wollte, während sie abwesend Sentas Bestellung wiederholte. Sie lächelte nicht, weder zu Beginn noch am Ende, entfernte sich nur aufrecht und mit großen, festen Schritten vom Tisch. Über der Tischdecke lag eine Plastikfolie, es roch nach Wofasept, die Tapete an der Wand war von einem wilden Muster aus Quadraten überzogen und von etwas, das aussah wie glitzernder Kunstschnee. Senta drehte die Vase mit dem Plastikröschen darin und studierte das Quadrat Himmel, das sie von hier aus sah. Das Haus des Lehrers, dahinter eine Kuppel wie eine formschöne Brust, noch dahinter die ersten Zuckerbäckerhäuser links und rechts der Allee. Alles schien hier damit beschäftigt, in die Höhe und in die Breite zu streben, nur fielen vielerorts die Kacheln ab. Die Fensterscheibe bestand aus drei Scheiben, wie Senta jetzt bemerkte, zwei gläserne und eine äußere, nur die war verspiegelt. Folie, die Luftblasen an den Rändern warf. Sie gab ihr dezentes Blaubraun in die Umgebung ab, was dem Morgenhimmel von hier drinnen eine Sepiafarbe gab. Dazuwaren die Spiegelscheiben da, ging es Senta durch den Kopf, während die fehlplazierte Kellnerin ihr Brötchen und Kaffee servierte –, nicht das Innen abzuschirmen, sondern das Außen lieblicher erscheinen zu lassen. Nichts war lieblich da draußen, in dieser Stadt, in diesem Land, hier gab es keine Lieblichkeit, hier gab es den ungebremst eisigen Ostwind und wenig Licht.
    Der fade Geschmack des Essens, die mürrische Unwirtlichkeit des Restaurants brachten in Senta ein seltsam nachhaltiges Dankbarkeitsgefühl hervor: Daß ihr Vater damals mit ihnen von Moskau nach West-Berlin gegangen war und daß Michael seinen Wunsch, im Süden zu leben, gegen alle Widerstände, auch ihre, durchgesetzt hatte. Daß sie das Glück gehabt hatte, zweimal weggehen zu können. Wären sie im Gefängnis ihrer Mutter geblieben, in ihrem geliebten Moskau, das in Sentas Vorstellung keinen anderen Charme besaß als den, den sie hier wahrnahm, dann wäre nichts so gekommen, wie es gekommen war, kein Michael, kein sicherer Reichtum, kein Leben im Süden.
    Sie lief durch das Scheunenviertel, die windschiefen Laternen mit orangegelben Glühbirnen hinter zerbrochenen Rundgläsern leuchteten an diesem Vormittag noch. Sie sah zwei Männer, die einen Esel hinter sich herzogen, Jugendliche, die auf der autoleeren Straße Fußball spielten, spiddelige Birken, die mit ihren weißen Strumpfbeinen aus Balkonen wuchsen. Sie begann unwillkürlich, Einschußlöcher des lange vergangenen Krieges in graubraunen Fassaden zu zählen. Große Beulen aus Rauputz wuchsen an Brandmauern, wie Markisen standen manche ab, darunter die zusammengewürfelten Trümmersteine. Irgendwo quietschten die Räder einer Straßenbahn im Gleisbett, scharf wie etwas, das zu tief ins Ohr gestochen wurde. Sie stieg über Berge aus Schutt und Sand, kam an Ruinen und verwilderten Flächen vorbei,wußte nichts darüber, daß diese Häuser hatten gesprengt werden sollen, um Platz für neues, gradliniges Wohnen zu schaffen. Daher hielt sich ihre Verwunderung nicht in Grenzen. Es war wie ein doppelt lichtarmer Tag, durch den sie ging. Nur, daß überall junge Menschen unterwegs waren, daß viele wie sie eher ziellos durch die Straßen liefen, wie Hunde eigentlich, im fröhlichen Herumlaufen an der Reviermarkierung beteiligt.
    Sie betrat das Haus in der Auguststraße durch zwei wie Karten zusammengestellte Eingangstüren. Sie zog den Kopf ein, um unter dem Eisengitter, den dahinter zerbrochenen Grobglasscheiben hindurchzutauchen. Sie rief leise seinen Namen, denn sie hoffte, nicht weiter ins Haus gehen zu

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