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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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Klingeln hatte er im Gong der Tagesschau nicht gehört, daher kam er nicht herunter. Lydchen verbot es sich, aus der Küche zu gehen, Senta allein über ihrer Suppe und neben dem verwaisten Gedeck sitzen zu lassen, sie brachte es nicht übers Herz, sie sah in Sentas Einsamkeit ihre eigene und blieb aus Solidarität. Im Stillen verwünschte sie das Mädchen und ihr Klavierspiel. Um in der nächsten Sekunde in einen Fluß aus Mitgefühl zu fallen, der sie eben dorthin trieb, hinein in die Musik.
    Senta aß stur und abgewandt ihre Suppe. Mit betont kontrollierten Gesten nahm sie Löffel für Löffel der Flüssigkeit auf, senkte den Kopf, führte das Silber an die Lippen, pustete, kaute nicht, schluckte. Löffel und Porzellan klimperten, Senta kratzte die Selleriewürfel zusammen, Lydchen fragte: »Möchten Sie noch einen Nachschlag?«, und Senta erwiderte: »Nein, danke. Ich bin schon satt.« Als Katarina imAllegro scherzando angekommen war, in dem die Tonschauer freundlicher, fast frech auf die beiden Frauen in der Küche hinabregneten, aller Vorwurf sich in den bereits hereingebrochenen Gewittern verausgabt zu haben schien, da stand Senta schließlich auf, ohne das Ende des Konzerts abzuwarten und verließ die Küche Richtung Haustür.
    »Warten Sie«, sagte Lydchen und zog einen unbeschrifteten Umschlag aus ihrem Dr.-Oetker-Kochbuch über der Spüle. Sie ging Senta nach. Der Umschlag war zerknickt, und Senta ahnte etwas, als sie ihn entgegennahm.
    »Hat ihn ein Mann mit einem Hut gebracht?«
    Lydchen schüttelte den Kopf. Senta bemerkte das Haarnetz über ihren dünn gewordenen, steingrauen Wellen.
    »Der Mann, der ihn brachte, hatte einen Bart bis zum Bauch.«
    Instinktiv drehte Senta den Brief um, prüfte die dreieckige Zunge, ob jemand sie gelöst hatte über Wasserdampf.
    »Sie hätten den Brief auch lesen können.«
    Lydchen drehte sich weg.
    Senta hielt das Papier fest, ein weißes Rechteck, ein unbeschriebenes Blatt, keine Spuren eines vorausgegangenen Öffnens. Katarinas selbstgefällige Rufe wurden immer lauter und zu schnellen, abgehackten Läufen, dann knallte sie ihnen die Akkorde und den wiederkehrenden, russischdicken Weltschmerz vor die Füße, und Senta hielt den Brief fest, als könne er dazu neigen, sich gleich selbst in Flammen zu setzen, ganz am äußersten Rand, diese Nachricht aus der anderen Welt, burn after reading, dachte sie kurz, wie Michael manchmal gesagt hatte, und dachte sogleich, wie gut, daß Lydia sich solche Freiheiten verbot, nie würde sie – um in Ungnade bei ihrem Gott zu fallen – Post von anderen lesen, also mußte Senta selbst den Brief vernichten nach dem Lesen, wenn sie ihn überhaupt las, denn vielleicht war das Geschriebene im Schweigen viel besser aufgehoben, im Darüberhinweggehen, im Fortspülen, wie ihre Tochter sie gerade fortspülte, im letzten Sturzbach des Konzertes, den sie hinter ihr ausgoß, mit Wut und einer Art tippelnder Freude, hier, Mama, ich weiß, daß du da bist, aber ich rede so wenig mit dir wie du mit mir.

H OTEL STADT BERLIN stand auf dem Dach, eher kleinlaut, so erschien es Senta, an diesem dunstigen Vormittag, hoch überm Alexanderplatz, dreißig oder mehr Stockwerke mit ausgewaschen wirkenden Spionscheiben, die das Treiben, das hinter ihnen stattfand, nur noch mehr schlecht als recht zu bewachen imstande schienen.
    Die langen Häuserriegel an den Seiten wirkten dazu wie gestrandete Schiffe in einem vormals vielbefahrenen Hafen. Überall waren Menschen unterwegs, viele von denen, die diese Mitte kannten, waren wohl eher in der anderen, und die, die diese Mitte nicht kannten, waren hier. Senta hatte lange nicht mehr so viele Menschen gesehen, die begeistert und erleichtert, überrascht auch, überallhin schauten, fast wie Kinder, die etwas zum ersten Mal entdeckten, manche lachten dabei, sangen und scherzten, manche liefen lachend und weinend durch die Straßen.
    Ihr Zimmer lag im zehnten Stock. Rundum holzgetäfelt, es wirkte, als könnten hinter den Wänden noch verdrahtet Nachrichten von Stockwerk zu Stockwerk wandern. Sie hatte erwogen zu spülen, während sie auf die eingebaute Naßzelle gegangen war, um nicht beim Pinkeln abgehört zu werden. Sie hatte ihre Kleidung in den Schrank gehängt, ihre Schuhe vors Fenster gestellt, den Koffer unters Bett, akkurat und vorsichtig, als würde ihr auch dabei jemand zusehen. Einen Augenblick dieser Stille im Zimmer mit seiner abgestandenen Luft hatte sie sich gegönnt, auf der Bettkante sitzend.

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