Das Glück der Zikaden
müssen. Ein hohles Echo die Treppen hinauf. Die Hoftür hing aus ihren Angeln befreit, im Durchgang waren tischgroße Stücke von der Decke gefallen, Zement, Stroh, Holzbalken. Sie huschte darüber hinweg wie ein Insekt und stand im schmalen, langgezogenen Hof, der in zwei, drei weitere Höfe überzugehen schien.
Gregor hatte im Brief geschrieben: ›Freiheit ist mitunter relativ. Du verstehst mich, wenn wir uns sehen.‹
Der rußbraune Schacht wirkte, als neige er sich mit seinen zwei Fronten über ihr zusammen, das Stück Himmel, das sie noch sah, hatte keine sehr andere Farbe als die der Hauswände. Sie stieg über den Schutt hinweg, über geöffnete Matratzen und ihre Sprungfedern, kaputte Toilettenschüsseln, ein alter Herd dahinter, die gähnende Klappe offen. In irgendeinem Aufgang knarrte Holz, es klang, als schleiche noch jemand wie sie durch die Gänge. Sie bewegte sich nicht. Sie versuchte, noch etwas zu hören, nichts. Sie drehte sich langsam um, ging zwei, drei Schritte zurück über den Schuttberg, da nahm sie das Lachen wahr. Eher im nächsten Hof als hier.
Hinter dem zweiten Durchgang, wo sie einen Mikadohügel aus Deckenbalken überkletterte, konnte sie die Stimmen deutlicher hören. Sie schob die Seitenflügeleingangstür unterhalb des Fensters auf, tastete nach einem Lichtschalter, fand keinen, wartete, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Sie holte tief Luft und stieg das Treppenhaus hoch.
Die Tür im zweiten Stock war nur angelehnt, sie horchte, sie mogelte sich durch den Spalt. Sie hörte wieder die Stimmen, ein Lachen, Murmeln, Schritte, sie sah das Licht am Ende des Flurs, eine beigebraune Röhre mit neongrünen Graffiti war er ansonsten. Sie balancierte über die verbliebenen Holzdielen und stand im Durchgang zum Zimmer. Vielleicht ein Dutzend Menschen standen im Raum, Bierflaschen in den Händen, ein Blecheimer nahe des Fensters, aufgebockt auf einer Betonplatte, Flammen züngelten über seinen Rand. Keiner bemerkte sie, alle schienen vertieft in Gespräche. Ein Großer mit Bart warf seine Zigarette in den Eimer, ein kleinerer mit Bart drehte sich zu ihr um.
Sie wich zurück bis auf die Schwebebalkendiele.
Er kam auf sie zu. Er blieb einen Schritt vor dem Türrahmen stehen und sah sie an. Keine Regung unter dem Bart. Sie traute ihrer Stimme nicht, wenn, überhaupt, was hätte sie sagen können, seine rasputineinsame Erscheinung verschlug ihr dazu noch die Sprache. Hinter ihm das flackernde Licht des Feuers, das Graubraun des Zimmers mit seinen welken Tapeten und erleichtert-fröhlichen Menschen. Sein Gesicht, seine Augen waren nicht zu erkennen. Er kam näher. Sie starrte nur auf den Bart, der zwischen ihnen war, seine rätselhafte, undurchdringbare Geschichte.
Er tastete nach ihrem Handgelenk. Sie nahm die kühle Trockenheit wahr, als seine Finger einzeln nach ihren suchten.
Sie hörte das Knallen von Kohlebrocken im Eimer, horchteauf ihren und Gregors Herzschlag und atmete zusammen mit dem Geruch von frischem Bier die filzige Fremde seines Bartes ein.
E r nahm nicht den Weg hoch zum Haus, er ging quer durch den Garten. Er fand den Steinweg hinunter zum Pool. Er streifte durch ihren Kräutergarten. Er stand einfach nur da und schien den weiten Blick über die Ebene zu genießen. Er kam zu ihr hoch und sagte: »Das ist schön. Das ist eine Riesenhängematte. Zum ewigen Ausruhen bestens geeignet.« Er ging an ihr vorbei, griff nach Erdnüssen, die eingestaubt in einer Schale lagen. Sie erwiderte eher lautlos: »Ich weiß, daß es einen bequem werden läßt, aber gibt es eine Pflicht zu irgendeiner Geschäftigkeit?«
Er ging nicht darauf ein. Es lag in der Luft. Ihre außergewöhnliche Wiederbegegnung konnte so schnell das Ernüchternde alltäglichen Tuns annehmen und so banal werden, wie Träume es sind, wenn sie wahr werden.
Er schien sich leicht zu fühlen, ausgelassen, seit sie hier angekommen waren, ohne es sich jedoch zu erlauben, diesen Zustand seiner Umwelt mitzuteilen. Einfach ein freundlicher Mensch zu sein, das schien ihm in dieser Umgebung zu einfach. Er täuschte eine Grimmigkeit vor, eine Mißlaune, womöglich auch, um Senta dazu zu bewegen, von ihrer höflichen und damit oberflächlichen Gastgeberrolle abzukommen. Aber sie fühlte sich zunächst sicher in dieser Rolle, eine andere fand sie nicht. Gregor war ihr Gast, ein fremder Gast, ein doppelt Fremder. Je länger sie sich in ihn umsorgender Kontrolliertheit übte, desto mißmutiger wurde
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