Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
Vom Netzwerk:
Stock. Warum wollte sie um keinen Preis Gregor begegnen? Der Mann hätte sie weder wahrgenommen noch erkannt. Jedesmal, wenn sie im Treppenhaus unterwegs war wie ein Mensch, der etwas zu verbergen hatte, flüchtete sie auch vor der Ahnung, daß sie ihr Bedürfnis, nach ihrem leiblichen Vater, nach einem Menschen mit Haltung, zu suchen, gegen eine wabernde, undefinierbare Liebschaft eingetauscht hatte.
    Richard wohnte im dritten Stock des rechten Seitenflügels, Gregors Name auf dem Klingelschild draußen wies auf den zweiten in eben diesem Seitenflügel hin. Aller Schnelligkeit zum Trotz, mit der sie jedesmal durch den Eingang, den Hof, das Seitenflügeltreppenhaus stob, nahm sie wahr, daß es nur eine Tür in diesem aufwendig, fast mondän renovierten Haus gab, die weder abgeschliffen noch mit honigfarbenem Öl eingerieben war. Diese Tür war ein Flickenteppich aus Grau-, Braun- und Grüntönen, der Rahmen war glänzend karmesinrot gestrichen, aber nur auf einer Seite. Neben der Tür, wo ansonsten die geschwungenen Klingelbretter waren, hing bei Gregor eine kakaobraune Holzplatte mit einem Nagel in der Mitte. An dem Nagel hing ein Bindfaden, daran eine Zettelrolle und ein Bleistift. Katarina hatte beim ersten Vorbeikommen diese altertümliche Möglichkeit, eine Nachricht zu hinterlassen, angerührt. Beim zweiten Vorbeisausen hatte sie den Eindruck gehabt, da hänge eine Zunge aus dem Brett.
    Um noch weniger auf ihre Heimatlosigkeit zurückgeworfen zu werden, fuhren sie in den Urlaub. Sie fanden kein Hotel, alle anderen Reisenden hatten ihre Ferien rechtzeitig geplant, und sie mieteten sich in einer abgelegenen Datscha ein, die Wände aus Pappe, der Fußboden hatte den langsam aus der Welt verschwindenden Wofasept-Geruch gespeichert, die parallel zum Boden wachsenden Krüppelkiefern wirkten wie Arme eines geduldigen Riesen und dienten ihnen als Sitzgelegenheit. In der klaren Luft des Nordens, der Unaufgeregtheit der Umgebung verging beiden die Lust an der Liebe, und sie begannen, miteinander zu reden.
    »Werner Stiller«, erzählte Richard eines abends in der Dämmerung, »gab sich vor anderen nie als mein Vater zu erkennen. Aber ich hab noch die Briefe, die er an mich geschrieben hat. Eigentlich jeder, der mit ihm zu tun gehabt hat, lernte ihn zu hassen. Verrat vernichtet Vertrauen, nichts vernichtet Menschlichkeit, den Glauben, daß man zusammenleben kann, gründlicher als Verrat. Das Gedemütigtwerden schürt die Wut. Nicht Zorn, Zorn mißt sich an der Größe des Vergehens, wenn das Vergehen verziehen ist, ist der Zorn zu Ende. Aber Wut, die weist über die Demütigung hinaus, über den Verrat, der Wütende bleibt sein Leben lang wütend, die Wut speist sich aus ihm selbst, und so wüten die Männer gegen meinen Vater, ihr Leben lang. Er ist der meistgehaßte Mann in diesen Zirkeln. Aber er zieht daraus nur das Gefühl überdauernder Autorität.«
    »Du Armer, welche Zirkel?«, fragte Katarina.
    Das nächste Mal, als sie miteinander redeten, weil das Küssen schon von Gewohnheit durchsetzt war, sagte er: »Mein Vater ist im Bett seiner Geliebten gestorben, eine weitere Frau war dabei, die daraufhin sofort verschwand. Die Geliebte, die nicht die Hellste zu sein scheint, saß neben meinem Vater, als er starb. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß sie besonders lange heulte. Wahrscheinlich wird sie sich geekelt haben, so wie ich sie kennengelernt habe. Der Mann neben ihr war tot, und um solche Angelegenheiten hatten sich Ehefrauen zu kümmern, nicht Geliebte.«
    »Und deine Mutter?«, fragte Katarina voller Mitgefühl.
    Am nächsten Abend – sie schauten schon an die Pappwände, in die Wollmausecken, aus dem Fenster, während sie sich liebten – sagte Richard gleich nach seinem Höhepunkt: »Meine Mutter hat mich angerufen, ich muß zu ihr fahren. Ihr kann jederzeit das Schlimmste passieren.
    Sie trinkt, sie säuft, muß man sagen, sie ist eine schwere Alkoholikerin, wenn ich zu ihr fahre, dann muß ich durch das Badezimmerfenster in die Erdgeschoßwohnung, weil die Eingangstür, jeder Quadratzentimeter des Fußbodens, mit Flaschen zugestellt ist. Es sieht aus wie in der Abfüllhalle einer Flaschenfabrik, nur ist es die Wohnung meiner Mutter. Und da sie sorgfältig die Deckel auf alle Flaschen dreht und längst keinen Wein oder kein Bier mehr trinkt, riecht es nach nichts, in der Wohnung meiner Mutter. Überhaupt ist es die aufgeräumteste Wohnung, die ich kenne. Ich muß keinen Schmutz, ich muß nur die

Weitere Kostenlose Bücher