Das Glück der Zikaden
unwesentliche Tatsache gesprochen hatte, reichte ins Zentrum ihres Charakters, in diese Verschwiegenheit, diese weltabgewandte Verkapselung, an der Katarina schon immer abgeprallt war. Es schien ein Reservoir zu sein, das sich aus dem Glauben speiste, allein durch Schweigen die nächsten Menschen um sich herum an sich zu binden. Im Verschweigen hatte man sie in der Hand. Katarina fand es nicht vorstellbar, daß Senta mit der alten Geschichten so abgeschlossen hatte, daß es keine Erinnerungen, keine Wünsche mehr geben sollte, noch nicht einmal einen Funken Neugier.
Katarina hatte sich lange an das unausgesprochene Gesetz gehalten, das Schweigen fortzuführen. Nachdem sie den ersten Schritt gewagt hatte, konnte sie nicht mehr zurück.
Ein Gedanke verfolgte sie, und sie konnte die Angst spüren, die sich an seinen Saum klammerte, um ihn aufs Gelände des Undenkbaren, des Vergessens zu ziehen. Sollte sie, Katarina, vielleicht auch besser diese Verkapselung lernen, statt immer weiter nach einem Pendant zu suchen, nach einem Mann, der leidenschaftlich genug war, überschwenglich, provokant und beharrlich darin, die Art, wie sie lebte – unauffällig, freundlich, umgänglich, zurückhaltend –, als nur eine Form von Einsamkeit zu entlarven?
Nun hatte dieses diffuse Bedürfnis nach Selbsterkenntnis sie bis hierher gebracht. Was, wenn sie sich nichts zu sagen hatten? Was, wenn er zu diesen verschlossenen, selbstbezogenen Einzelgängern gehörte, von denen es in ihrem Leben nur so wimmelte?
Mit sicherer Hand suchte sie sich die aus, die es zu vermeiden wußten, sich an einen anderen Menschen zu binden. Und immer von neuem war sie überzeugt davon, diese Männer von jedweder Unfähigkeit oder Angst heilen zu können. Wenn so jemand ihr leiblicher Vater war – was konnte bei soeinem Experiment herauskommen, außer Schmerz. Wozu suchte sie ihn?
Sie klingelte, und es passierte nichts. Erleichtert drehte sie sich von der Tür weg, folgte dem Impuls, daß es gut sein würde, ihn jetzt nicht getroffen zu haben, ihn für einige Zeit noch nicht zu treffen, überhaupt die ganze Sache ein wenig zu verschieben. Keine Eile, wozu Eile, es hatte ihn Jahre vorher nicht in ihrem Leben gegeben, wozu sollte es ihn jetzt plötzlich geben. Wahrscheinlich sah er das genauso.
Katarina erschrak, wie man erschrickt, wenn plötzlich jemand vor einem steht, den man nicht hat kommen sehen. Ein Mann in ihrem Alter, dunkelgrauer Anzug, weißes Hemd, einen grüngemusterten Schal lose um den Hals geworfen. Es irritierte sie, mit ihm genau auf Augenhöhe zu sein. Er kniff die Augenbrauen ein wenig zusammen, verlagerte sein Gewicht von links nach rechts, als deute er ein Ausweichen an, blieb aber stehen.
»Keine Ursache«, sagte er mit einer fast unwirklich sonoren Stimme.
»Dreitausendneunhundert, no discussion«, schrie jemand in sein Mobiltelefon, während er hinter ihnen vorbeieilte.
»Entschuldigung, ich wollte da runter«, sagte Katarina und zeigte verlegen in Richtung Oranienburger Tor. Die physische Präsenz dieses Mannes mit dem grünen Schal, der ihr – einer großgewachsenen Frau – unmittelbar gegenüberstand, erzeugte in ihr diese verhuschte Haltung. So konnte man Jägern entkommen. Dabei hätte sie, ohne einen Widerspruch darin zu sehen, auch nichts dagegen, Beute zu sein. Keine leichte Beute. Aber sie weckte gern den Jagdinstinkt. Besonders bei diesem Mann.
Er schrieb nicht auf Der Letzten Seite einer Zeitung, wie ihr Großvater, mit dem sie noch immer das Eckhaus an der Kopfsteinpflasterstraße im verschlafenen West-Berlin bewohnte. Er schrieb zu dem Zeitpunkt, als sie sich vor der Tür von Gregors Haus das erste Mal trafen, vielbeachtete Artikel im Feuilleton. Erst gegen Mitte des orientierungslosen Jahrtausendwendejahrs, als alle langsam zu begreifen schienen, daß die Welt doch nicht untergegangen war, begann sein beruflicher Niedergang, der über die Kulturseiten zu den Wirtschaftsmeldungen führte bis zur Reisebeilage, um am Ende für die Rubrik Wohnung & Garten zuständig zu sein, ein dreimal im Jahr erscheinendes Supplement, das hauptsächlich aus Anzeigen bestand, die von kleinen Texten umrahmt wurden.
Von seinen Kollegen wurde er Richie genannt, von ihr wünschte er sich, mit seinem vollen Namen Richard angesprochen zu werden. Er sagte, aus ihrem Mund klänge Richie wie ein Schimpfwort, das ihn errege aber nicht befriedige. Sie erzählte ihm nichts vom wahren Grund ihrer Anwesenheit am Hauseingang, wenn er den
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