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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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war, der sie irritierte, er erinnerte sie an den Geruch des Theaters, ihres Theaters, weit weg und plötzlich ganz da. Als sie das weitläufige Berliner Zimmer betrat, bückte sie sich und rollte den Teppich ein, zog ihn an die Seite, betrat die Dielen. Sie wußte nicht, ob Anton es gewesen war, oder ob Tante Ingje ihren nächtlichen Brief an sich genommen hatte. Wenn er es gewesenwar, dann wußte sie, warum er nachgerade bittend-höflich mit ihr umgegangen war, ihr die Tür aufgehalten, die Kinder an die Hand genommen, ihr die Wahl überlassen hatte, wo sie in der Wohnung zu schlafen gedachte. Nur heimlich stolz darauf, daß er es geschafft hatte, sie aus der Höhle des Löwen herauszubugsieren, hier in Sicherheit zu bringen. Das wollte sie ihm danken, das wußte sie, hier, mit festem Stand auf den Dielen. Wenn Ingje es gewesen war, dann säße sie wahrscheinlich jetzt schon mit einem Wörterbuch an der Übersetzung und würde sich an jedem Wort laben, am Widerwärtig und am Schönreden, die Saat des Zweifels zwischen den Eheleuten als ihren Triumph feiern, und den letzten Satz, der für Nadja der entscheidende war – denn das tat sie wirklich, sie liebte ihren Mann und seinen Ozean-Optimismus, seine Fähigkeit zu Ignoranz, uferloser Naivität, all das, was sie in sich nicht erzeugen konnte, nicht kannte, wie es sich anfühlte, die Fähigkeit, wegzusehen, sich abzukühlen, diese ewige Gefühlsbrodelei in Schach zu halten, das Hoheitsrecht der Kontrolle, die alles im Griff hatte –, diesen letzten Satz würde Ingje übersehen können, ihn nicht weiter übersetzenswert finden, ein Bekenntnis der Liebe war zu groß für ihr Leben, es mußte, so Nadjas Gedanken, in einen Brunnen ohne Grund fallen, wie Regen aufs Meer. Sie schwor sich, Anton immer wieder dieses Bekenntnis ihrer Unzulänglichkeit zu geben, denn irgendwie sorgte er weiter für sie, allem zum Trotz, und wenn diese Bitte um Mitgefühl auch noch so verschlüsselt war, das war, was sie machen wollte, und es fühlte sich an wie ein Schnitt, den sie durch die staubfreie Luft in Tante Ingjes Wohnung machte, durch ihren blitzblanken Kosmos, in dem höchstens Sammeltassen und steifgebügelte Küchenhandtücher kreisten, aber keine Menschen mit einem Herz, das ihnen herausgerissen werden konnte. Mit wohltuender Genüßlichkeit stellte Nadja fest, daß sie ihren Stalin zwischen dem Hutschenreuther hatte stehenlassen,ihren Gott auf fremdem Terrain, dessen Blick die Tante einige Zeit nicht würde einfangen können, da sie das Porzellan hinter Glas nicht abzustauben gezwungen war.
    Da ging wieder dieses Licht an. Ein sehr schmales, kleines Fenster auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes. Es war ihr schon bei der ersten Begehung aufgefallen. Es leuchtete ständig und in einem Rhythmus auf, der sie an Morsezeichen erinnerte. An. Aus. An. An. Sie brachte die Kinder ins Bett, räumte die Küche auf. Sobald wie möglich ging sie wieder ans Fenster. Sie notierte auf einem Stück Papier. Sie wußte, es war ihre Aufgabe, diese Nachricht, die nur für Herrn Weniger bestimmt sein konnte, ihm zukommen zu lassen. Sie notierte weiter. Sie war so beschäftigt, daß sie nicht hörte, wie ihr Mann die Wohnung betrat.
    »Bist du noch auf?« fragte er, als er ins Berliner Zimmer kam.
    »Natürlich«, sagte sie leise auf Russisch und steckte das Papier und den Stift in die Schürzentasche. »Ich möchte Herrn Weniger für seine Großzügigkeit danken.«
    »Das wäre gut, ja«, sagte Anton leise, selbst sofort milde gestimmt ob der Milde in Nadjas Stimme. »Ist nur schwierig. Er hat eine Passage nach New York ergattert.«
    Von dort kam eines Tages ein Brief. Darin stand: ›Genießen Sie die Wohnung. Ich bin froh, unbehelligt in Freiheit zu leben, wie man hier sagt, und jetzt, da mir die Sprache weniger Schwierigkeiten bereitet, lösen sich die kleinen Unannehmlichkeiten des Alltags einfach in Luft auf. Ich habe mich an die hohen Häuser, die tiefen Schluchten gewöhnt, die Eile, eine rätselhafte Rastlosigkeit, nach der alle süchtig zu sein scheinen, das weiße Brot, die hochgekrempelten Ärmel, und ich schreibe sogar wieder. Für den Aufbau. Haben Sie davon gehört? Mit kollegialen Grüßen auch an Ihre Frau, Ihr Samuel Weniger.
    Anton widmete sich den Horoskopen mit einer Hingabe, als seien es Meldungen von Welt. Er schrieb: ›Der Wassermann ist halb Meerwesen, halb Herrscher. Er besitzt somit zwei seltene Fähigkeiten in Union. Er kann schwimmen, wenn nötig, und er kann sich

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