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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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durch die Art, wie die Bettwäsche auf Kante im Schrank lag, die Qualität der Handtücher, die das Monogramm Ihrer Mutter tragen (ist es so?). Ich kenne Sie, denn das Fremde ist einem immer näher als das Naheliegende. Nichts lehrt den Wert eines andern erkennen als seine Abwesenheit. Oder meine ich nur, Sie zu kennen, weil wir beide das Schicksal teilen, herausgeworfen worden zu sein? Woanders ist es immer wärmer, das Gras grüner, ach, ich will mich nicht in Platitüden ergehen, aber ich finde auch nicht die richtigen Worte dafür, was ich Ihnen eigentlich schreiben will.‹
    ›Ja‹, schrieb er Wochen später zurück, als die sommerliche Pracht der Linden schon matt und herbstlich wurde: ›Ja, ich gebe zu, wie mich der Gedanke tröstet, daß Sie, Nadja, es sind, die zwischen meinen Möbeln steht, die Luft atmet, den Ausblick hat, den ich sonst hatte (auf den Sonnenbalkon gegenüber, wo eine Frau diese überbordende Kapuzinerkresse züchtet?). Meine Sehnsucht nach Berlin – physisch. (Will dieses Wort eigentlich nicht gebrauchen, alle Dichter müssen sich nach ihm die Finger abwischen, wie von diesen Butterteigdingern.) Es zieht mir den Brustkorb zusammen, ein krampfender Klumpen, als hätte ich Magnesiummangel im entscheidenden Muskel. Was schreibe ich Ihnen? Ich sah gerade einen russischen Tänzer, ehemals russisch, jetzt ist er Amerikaner geworden. Es ist ja sonst ein bißchen lächerlich, wenn ein Mann tanzt und Luftsprünge macht, aber er war der Faun – im Nachmittag eines Fauns . Der Faun belauschte die Nymphen, sie badeten im Walde und tanzten. Er sprang hervor, die Nymphen flohen. Eine verlor vor Schreck ihren Schleier. Der Tag neigte sich. Der Faun stand allein im Wald, verloren und beraubt von allem, wonach er sich sehnte. Der Trottel wartete noch! Natürlich. Dann wehte ein Wind, der Schleier stob auf, als tanze er allein in der Luft. Der Tänzer folgte, erst zögerlich, dann tanzte er mit dem Schleier, mit dem armseligen Stück Stoff, das ihm blieb, und der Schleier wurde ihr Kleid, ihr Körper, schließlich ihr Duft. Er wurde alles, was die Entschwundene, Verschreckte gewesen ist. Sein Tanz war groß, erfüllt und groß, fast wollte ich sagen – erwar glücklich im Tanz. Ich bin wie er, gebe mich mit der Illusion zufrieden. Wenn ich Ihnen nicht schreiben könnte, ich wäre schon verrückt geworden, nur einer mehr in dieser Stadt der Verrückten, ich wäre nicht aufgefallen, im Gegenteil, ich paßte besser hierher. Ihr Samuel Weniger.‹
    Noch wie in Eile an die Seite notiert hatte er: ›Was ich vermisse? Das ungelebte Leben. Briefe hin und her. Aber: Leben! Warum nicht, einfach? Immer nur die Angst, die keinen Grund hat, keinen anzugeben weiß.‹
    Daraufhin schrieb sie: ›Was glauben Sie – ich sei noch nicht verrückt? Ein Ausweg aus dem Verstand, der seinen Kreis im Faß abschreitet, die Angst ist der Eisenring, der die Dauben zusammenhält. Überwinden Sie Ihre Angst, lieber Samuel, wie gesagt, sie ist doch ohne Grund. Handeln Sie, das bannt den Hund (sage ich Ihnen als erfahrene Schauspielerin. Ich wünschte, ich könnte es).‹
    Sie ging mit dem mulmigen Gefühl zur Post, einen Menschen zu etwas aufzufordern, dessen Konsequenz Unabsehbares zur Folge haben konnte. Jedes Wagnis, damit jede Handlung, war aus ihrem Leben verschwunden. Durfte sie einen anderen Menschen dazu auffordern, statt ihrer zu handeln?
    Weil sie die Briefe mit Beiläufigkeit behandelte, war sie sich sicher, daß sie Anton nicht weiter auffallen konnten. Kam einer an, während er zu Hause war, nahm Nadja den voluminösen Umschlag mit gespielter Nachlässigkeit entgegen, ließ ihn auf dem Küchentisch liegen – im Zentrum ihres Reiches –, und wirklich, er schien keinen Blick mehr drauf zu werfen. Sie hatte den Eindruck, daß dieser offensichtliche, nicht geheimniskrämerische Umgang die Briefe für Anton zu etwas Alltäglichem werden ließ, das er nicht mehr sah.
    Er wollte nicht sehen, was in den blaurot-umrandeten Umschlägen steckte. Er fragte Nadja gelegentlich mal: »Hat Herr Weniger endlich gesagt, wieviel Miete wir ihm zahlen sollen? Oder will er in seine Wohnung zurück?« Und als Nadja alle Fragen verneinte – »Nein, keine Miete, keine Rückkehr, nichts« –, beruhigte ihn das so, als hätte sie damit auch alles andere Ungefragte mitverneint.

A nton war, bei genauer Betrachtung seines Charakters, viel beharrlicher, als Nadja es war. Seine romantische Überzeugung, daß zwei Menschen, die sich einmal

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