Das Glück der Zikaden
leise, aber so selbstsicher wie nur ein Mann es konnte, der sich als unbedingter Teil eines großen Zusammenhangs verstand. Anton nickte wieder und sagte: »Ja, es geht ausschließlich ums Gleichgewicht.« Brehm lächelte das erste Mal.
Er lehnte sich etwas zurück. Das Pärchen nebenan liebte sich in seiner geteilten Gehässigkeit.
»Haben Sie Interesse daran, mit uns den Weltfrieden zu sichern?«
»Ja«, sagte Anton laut und deutlich, wie er es vorher vielleicht nur bei seiner Eheschließung gesagt hatte. Herr Brehm nickte, zahlte den Kaffee bei der Serviererin und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Wochen vergingen, ohne daß Herr Brehm oder jemand anderes an Anton herantrat. Wochen, in denen er erst zweifelte, dann wütend wurde, dann im Kopf Absageerklärungen entwarf und mit ausladender Geste unterschrieb. Wochen, in denen immer öfter in Horoskopen Formulierungen auftauchten wie: ›Spionieren Sie niemals Ihrer Geliebten nach, der Preis des Verlassenwerdens ist zu hoch!‹ Oder: ›Lassen Sie sich auf keine Wagnisse ein, über deren Ausgang Sie nichts wissen können, es bleiben nur schlechte Gemütslagen als Folge.‹
Bis sich in ihm das Gefühl ausbreitete, daß er die Begegnung mit Gustav Brehm nur geträumt hatte. Es war, als schmeckte er noch den Kaffee im Mund, das erste Mal seit Jahren richtig guter Kaffee, aber Herr Brehms Gesicht, seine ganze Gestalt löste sich auf, als hätte es ihn in der Realität, außerhalb eines intensiven Tagtraumes, niemals gegeben.
»Herr Neudecker?«, fragte noch einmal einige Wochen später jemand hinter seinem Rücken, als er gerade sein Fahrrad über den Hof schob. Der Winter war milde, brachte aber die Abendluft deutlich schnell zum Abkühlen, es hatte kurz zuvor geregnet, Anton wischte seinen Sattel mit dem Ärmel trocken. »Ja?«
»Könnten wir ein Stück Weg miteinander gehen?«, fragte der Mann, der einen dunkelblauen Übermantel trug, einen Schal im Ausschnitt, dunkelbraune Tropfen auf dem mittelbraunen Filz seines Hutes. Einen Lederkoffer an der linken Hand. Anton fiel auf, wie exakt sein Hosensaumaufschlag auf seine neuen Schuhe stieß. Er hatte einen trockenen, nicht zu festen Händedruck. Sie gingen schweigend nebeneinander, bis sie von der Hauptstraße in eine der Nebenstraßen abbogen, Anton folgte den Vorgaben des Mannes. Sein Fahrrad quietschte an der vorderen Achse, ein Geräusch, das über die Stille hinweghalf, dann sagte der Mann endlich: »Ich gebe Ihnen gleich meinen Koffer, dafür geben Sie mir Ihr Rad.«
»Nein«, entfuhr es Anton, »mein Fahrrad nicht.«
Der Mann schaute ihn kurz von der Seite an, dann sagte er: »Wenn diese Fingerübung ein Problem ist, lassen wir es sofort.«
»Ich könnte Ihre Tasche ...«, schlug Anton vor.
»Schluß.«
»Warten Sie«, flüsterte Anton. Sie gingen schweigend nebeneinanderher. Er räusperte sich und sagte: »Bitte stellen Sie ihn doch hinten auf meinen Gepäckträger, ich transportiere ihn für Sie.«
»Pff«, atmete der Mann nur aus und trug seinen Koffer weiter. In einem sanften Bogen ließ er vom Bürgersteig ab, überstieg kleine Unebenheiten im Belag der Straße, querte sie und ging auf der gegenüberliegenden Seite weiter. Anton folgte ihm. Dabei zwang er sich, nicht zurückzuschauen, nicht nach Beobachtern zu suchen, von denen es, so sein Gefühl, Hunderte hinter Gardinen, Straßenecken, Mauervorsprüngen gab. Nur beim Überqueren der Straße gönnte er sich einen beiläufig wirkenden Seitenblick, in jede Richtung, als er keinen Menschen sah, nur weiter vorn diesen Mann, der seinen Koffer nicht rausrücken wollte, stieg Anton aufs Fahrrad und fuhr ihm nach. Als er ihn eingeholt hatte, trat er langsam, blieb auf dem Sattel sitzen. »Sie geben mir jetzt diesen Koffer.« Der Mann blieb stehen. Anton stieg ab. Die Fahrradstange zwischen die Schenkel geklemmt, stand er dem kleineren Mantelträger gegenüber. »Sie verantworten sonst das Scheitern der Unternehmung.«
Der Mann musterte ihn.
»Ich brauch mich nicht anzubiedern«, sagte Anton mit seiner Redaktionssitzungsstimme, »ich dachte, man wolle meine Informationen.« Er machte Anstalten, wieder auf seinen Sattel zu rutschten. Der Mann stellte seinen Fuß vor den Vorderreifen.
»Sie machen, was ich Ihnen sage.«
»Sie bitten mich, das werden wir nie vergessen.« Anton erinnerte sich der finsteren Verärgerung, die ihn erfaßt hatte in den Wochen, da niemand die Nachfolge von Herrn Brehm angetreten hatte.
Der Mann wollte in seinem
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