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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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ihre Trauer beiseite schieben können, den Schmerz in ihrer Brust, bis sie schließlich tief ein- und ausatmen mußte, als sie Nadja mitsamt dem Teppich in Antons Schlafzimmer zog. Dort wuchtete sie unter Aufbringung ihrer letzten Kräfte die Mutter auf das niedrige, schmale Bett, sortierte ein letztes Mal ihre Kleidung und ihr Haar, spürte, wie die Erinnerung an den Tod und seine Übermacht unter der Geschäftigkeit hervorkroch, und küßte ihre Mutter zum Abschied auf die Stirn. Nadja hatte Senta ins Leben hineinbegleitet, das mindeste, was sie tun konnte, war, ihre Mutter aus dem Leben hinauszubegleiten. In dieser Weichheit, auch bedingt durch die ersten Schwangerschaftshormone, die ihren Körper überschwemmten, verzieh sie ihrer Mutter die ewige Schwermut, die daraus erwachsende Unnahbarkeit, die Fremdheit, die Antons, Peters und ihr Leben geprägt hatte. Einen kurzen Moment lang wünschte sie, den Stalin nicht zerrissen zu haben. Er gehörte zu Nadja wie jedes Lied, das sie hatte singen können. Senta ging zurück ins Berliner Zimmer, schaute in die offene Klappe des Klaviers, in der Hoffnung, dort einen weiteren Stalin zu entdecken, fand aber nur einen kleinen Brief ihrer Mutter an ihren Vater. Sie entzifferte die verschnörkelten Bilder der Handschrift, Buchstaben als Heimat, und fand, daß dieser Brief es verdiente, in den Händen der Mutter zu liegen, viel besser als ein Schwerverbrecher. Dieser kleine Zettel, der einmal über dem Klappbett im staubigen Noten-Antiquariat der Tante Ingje gehangen hatte. Senta faltete ihn und schob ihn Nadja zwischen die übereinandergelegten Hände, ohne sich im geringsten an die mäkelige Tante oder deren picobellosaubere Wohnung zu erinnern, aus der sie gemeinsam, dank Antons Organisationsgeschick, kurz nach ihrer Ankunft aus Moskau wieder ausziehen konnten. Senta schaute ihre Mutter ein letztes Mal an, öffnete beide Flügel des Fensters, zog die Vorhänge dazwischen und schloß die Tür.
    Und dann ging sie, mit einer Kraft, die sich aus dem reinen Funktionieren speiste, den Mann suchen, der ihr in den Gängen der Universität schon zweimal so etwas Ähnliches wie einen Heiratsantrag gemacht hatte.

A ls Gregor zum ersten Mal die Wohnungstür geöffnet hatte, die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt, war Sentas deutliches Gefühl, von diesem Mann zugleich angezogen und abgestoßen zu werden. Er war gefährlich. Seine Unterarme muskulös. Sein Lachen breit und ohne Vorbehalte. Genüßlich, fast naiv, so wirkte es. Später sah sie, daß er zu begeisterungsfähig und in seinen Leidenschaften zu beharrlich sein konnte, um nur naiv zu sein.
    Die kastanienbraunen Haare wuchsen ihm in einem kräftigen Wirbel aus der Stirn. In seinem Gesicht war alles groß: die Nase, die dunklen Augenbrauen, die Augen. Er war entschlossen, friedensbewegt, theoriefest. So hatte Michael es ausgedrückt, als er Senta von seinem neuen Mitbewohner erzählt hatte. Gregor war in der DKP oder in der Jugendorganisation der Kommunisten engagiert, er redete in Rätseln oder zumindest in Wendungen, die sich aus seinem außerordentlichen marxistisch-leninistischen Grundlagenwissen speisten, er piesackte Michael für sein Interesse an guten Weinen, schmackhaftem Essen, französischen Filmen und schönen Frauen. Selbst, wenn sie sich am Ende des Flurs oder im Bad oder nachts vor dem Kühlschrank trafen, verkniff Gregor sich keine spitze Bemerkung. Es juckte ihn in den Fingern, wie er sagte, die demonstrative Hinwendung seines Mitbewohners Michael zu den Oberflächlichkeiten des Lebens in Frage zu stellen. Michael erinnerte ihn dann nonchalant daran, daß er der Hauptmieter war und meistden Kühlschrank füllte, vor dem sie gerade standen. Woraufhin Gregor erwiderte, daß er irgendwann in nächster Zeit den Beweis antreten werde, daß es sich von anderen Dingen als von einer Suppe leben ließe. Gregor war sich sicher, eines Tages zumindest Berufsrevolutionär zu werden. Seine Standfestigkeit schien sich aus der Tatsache zu speisen, daß schon sein Vater ein verfolgter Kommunist gewesen war, bis die Familie hatte untertauchen können, und die letzten drei Kriegsjahre bei entfernten Verwandten in einem Ort im Schweizer Wallis überstanden hatte. Seine Mutter war immer in seiner Nähe geblieben, sein Vater hatte die Schule ersetzt, ansonsten war er durch das Leben auf dem Hof erzogen worden, eine Horde von meist zehn Kindern aller Altersstufen, so erzählte er es Senta bei einem ihrer ersten Treffen, bei dem Senta

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