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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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schon die Heimlichkeit genoß, obwohl es eigentlich gar nichts zu verheimlichen gab. Erstaunlich genug, eine glückliche Kindheit, der Krieg war nicht mehr als eine abstrakte Bedrohung irgendwo jenseits der Wallis-Grenzen gewesen, und Senta sog die Bilder der Berge, des Himmels, der kristallenen Luft auf und bettete Gregor wie eine Art Wilhelm Tell darin ein.
    Er bewohnte die langgezogene Kammer neben der Küche und nannte sie seinen Ho-Chi-Minh-Pfad. Im Flur hingen Kabelbahnen unter der Decke, ein Funzellicht erhellte ihn nur geringfügig, dunkelbraune Türen und ein Läufer auf den ochsenblutroten Dielen. Bei allen Malen, die Senta die Wohnung betrat, nahm Gregor ihr Gesicht in seine Hände, zog sie zu sich, ihr Rücken an der Wand. Er küßte sie an Ort und Stelle auf den Mund. Das tat er auch, wenn Michael zugegen war, den sie eigentlich besucht hatte. Gregor war nicht viel größer als sie, seine Lippen immer warm, sein ganzer Körper ein heizendes Kraftwerk, hinter ihm die überstrichene Blumentapete, das windschiefe Regal, Habermas, Engels, Kant,seit Gregor eingezogen war auch noch seine Mao-Bibel, und er sagte leise: »Es ist soweit.« Sie starrte nur den Kant an, Kritik der reinen Vernunft, Kritik der praktischen Vernunft, Kritik der Urteilskraft , was für Ratgeber, wenn der Mann, in den sie sich – das wurde ihr im Angesicht seiner entschlossenen Ankündigung klar – hingebungsvoll bis zur Selbstaufgabe verliebt hatte, bald verschwand.
    »Könnten wir über was anderes reden«, flüsterte sie zurück. Der Leichtsinn, den sie in seiner Überzeugtheit aufzuspüren meinte, verunsicherte sie am meisten.
    »Die meisten muß man zu ihrem Glück zwingen.«
    »Danke.«
    Sie entzog sich seinen Händen, tauchte unter seinen Armen hindurch, nahm drei, vier Schritte Abstand zu ihm auf. Eine Hand am Bücherregal, aber es bewegte sich leicht, es wurde nur noch durch die Weltveränderungswerke vom Umfallen abgehalten. Sie schaute ihn an. Sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren, ihm nicht auszuweichen. Aber sie wich schon aus, während sie noch das Gegenteil übte. Sie wünschte, sie hätte die Fähigkeit behalten, die man doch irgendwann in seinem Leben mal hatte haben müssen, an eine romantische, ewige Einigkeit zwischen zwei Menschen zu glauben. Die Desillusion mußte so schleichend passiert sein, daß sie keinen Schmerz darüber verspürte, eher Scham, dieses Gefühl nicht zu haben oder nicht herstellen zu können. Die Nacktheit der Realität kam ihr nicht unangenehm vor. So war es halt. Nur ein Mensch, der sich was vormachen konnte, konnte glauben, daß ihre Beziehung diesen Ortswechsel heil überstehen würde. Gregor würde einfach weiter seinen Weg gehen. Aber sie hätte dann das schollengroße Eiland Heimat aufgeben, zu dem sie West-Berlin für sich gemacht hatte. Die nachhaltigste Irritation war, daß sie für ihn etwas aufgeben sollte, während er für sie nichts aufzugeben bereit war. Noch unsicher war sie in dieser Art des Denkens, es glich zu sehr den geronnenen Redewendungen, die sie in der Uni hörte, auf eine unangenehme Weise verbunden mit Frauen, die in der schlichten Neutralität ihrer Kleidung und mit ungeschminkten Gesichtern ihre Weiblichkeit zu verstecken suchten, die allesamt Schnelldenkerinnen waren, deren Redefluß selten zu stoppen war, die aber berechnend, kühl und oftmals arrogant wirkten, unnahbar, Senta konnte sich mit ihnen nicht befreunden.
    Er sei avisiert, hatte er ihr erzählt. Das klang groß, großartig, das klang nach einem Staat in Person eines freundlichen Menschen, der die Arme öffnete und sich freute, Gregor in Empfang zu nehmen. Senta verstand seine Begeisterung, als er ihr das gesagt hatte. Man erwartete ihn. Er würde geschult werden. Vorbereitet. Um als einer der großen Revolutionäre endlich und dauerhaft die Menschheit zu retten.
    Michael betrat den Flur freundlicherweise erst, als Senta in sicherem Abstand zu Gregor ihre Fassung wiedergewonnen hatte. »Gehen wir aus?«, fragte er und gab ihr einen Kuß auf die Wange.
    »Ja«, sagte sie, schaute wieder auf den Kant, Engels, Habermas, keine Rettung in Sicht, sie sagte: »Ich wollte nur die Protestantische Ethik zurückgeben und dich fragen, ob wir nachher die Weber-Seminararbeit fertigschreiben?«
    »Natürlich«, sagte Michael in seiner einfachen, rheinischen Art. Er hatte die Hände in die Hosentaschen geschoben, trug wie immer ein blaues Hemd, Pullunder, Anzughose, solide, manchmal knartschende Schuhe, die

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