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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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Himmelsmitte, las er, nervös von der Vorstellung dieser Dimensionslosigkeit, sind nichts anderes, als der Wesenskern eines Menschen. Das, woran er glaubt, was ihn bewegt.
    Er stieß auf einen Stich, der Dantes Hölle zeigte, dortstanden diejenigen, die die Zukunft vorhergesagt hatten, mit nach hinten verdrehten Köpfen. Obwohl er das Bild nur Sekunden betrachtet hatte, blieb es in seinem Kopf haften wie lästiges Kaugummi unter der Schuhsohle. Selbst, wenn das Ding entfernt war, hinterließ es noch einen weißlichen Fleck. Er schrieb in fahriger Mißlaunigkeit Sätze ab, von denen er sich irgendeine Rettung erhoffte: ›Die absolute innere Ordnung des Unbewußten ist es, die unsere Zuflucht und Hilfe in den Erschütterungen und Zufällen des Lebens bildet – wenn wir es verstehen, mit ihr zu verkehren.‹ Er erwiderte auf die schriftliche Anfrage der Aktrice aus Nikolassee, die seiner Sekretärin in der Redaktion einen Umschlag mit ihrer Bitte plus einem Barbetrag hingelegt hatte, daß allein schon die Redewendung, die Sonne stehe in dem und dem Zeichen, uns so übergenau den Spalt anzeige zwischen unseren Wünschen und der Wirklichkeit: ›Wir glauben dem reinen Anschein, nur weil es so aussieht, daß die Sonne dort steht. Wir nehmen das, was wir sehen, als Realität. Glauben Sie der Realität, die Sie erzeugen, mit freundlichen Grüßen, Ihr Anton Neudecker.‹ Er schickte ihr die Antwort zusammen mit dem Geld zurück. Die Höflichkeit, mit der er sich empfahl – Ihr Anton Neudecker –, hatte er nicht vermeiden können, obwohl er diesen entsetzlichen Widerwillen dabei spürte. Es hatte mit der Zurückweisung zu tun, die der Text enthielt. Eine andere Anfrage eines Mannes, der wissen wollte, wie es mit seinem Unternehmen im nächsten Jahr weiterginge, beantwortete Anton nur noch mit einem Zitat, zu mehr fühlte er sich nicht mehr fähig. ›Stellen Sie sich vor‹, schrieb er hastig, fast unwirsch, ›die Erde würde einen ihrer Grundimpulse aufgeben. Gäbe sie z. B. die Revolution, die Umkreisung der Sonne auf und würde nur noch die Rotation, die Drehung um die eigene Achse vollziehen, würde sie die Größenordnung eines Planeten übersteigen und sich als Sonne gebären, als Mittelpunkt, um den sich die anderenPlaneten zu drehen hätten. Sie würde sich also NICHT MEHR in die ihr vorgeschriebene Bahn um die Sonne einfügen, sondern nur noch ihr eigenes Gesetz leben. Mit besten Grüßen, A . N .‹
    Zum Chiron gesellten sich die exilierten Planeten. Sie zogen Antons Aufmerksamkeit auf sich. Kurzzeitig fand er eine fast behagliche Ruhe darin, mehr über sie zu erfahren. Man nannte sie die Exilierten, wenn sie sich in einem Tierkreiszeichen wiederfanden, das ihrer Heimat, ihrem Domizil, gegenüberstand. In diesem Exil wurde ihre Kraft vernichtet. Sie fielen auf sich selbst zurück. Sie waren einsame Entitäten, so etwas in der Art. Als er von der wüsten, kalten Oberfläche einer dieser Planeten zu träumen begann, verlor er das Interesse an einer näheren Beschäftigung mit ihnen.
    Er wollte aber auch kein Leibeigener eines Unglaubens werden, sich der Rationalität, der glanzlosen, realen Diesseitigkeit hingeben. Wie ein Pendel schlug er aus, weigerte sich nach einem Ausflug in die komplette Infragestellung wieder so etwas wie ein Mystiker zu werden, einer, der sehen und aushalten konnte, was ihn im Innersten zusammenhielt. Er schien irgend etwas dazwischen zu sein, eine Gestalt, die nach hinten schaute, aber nichts sehen wollte, ein Suchender, der aber doch, bitte schön, nicht immer eine Antwort parat haben mußte.
    Und er wünschte sich den einfachen, freundlichen Plauderton zurück, mit dem er seine Nähe zu den Sternen auf Der Letzten Seite betrieben hatte. Wie nett von ihnen, daß sie sich so individuell um einen kümmern konnten. Trigon, Sextil, Halbquadrat. Ein kleines Lächeln, ein Scherz über den Beziehungswahn des Menschen, den doch einfach so verständlichen Wunsch, sich irgendwo im Großen wiederzufinden. Neptun durchläufig im Medium coeli.
    Er hatte sein Arbeitszimmer seit den dunklen Stunden, als er neben seiner Nadja gesessen, sie festgehalten hatte, nichtwieder betreten. Peter war irgendwann erschienen, Senta auch, an Uhrzeiten konnte Anton sich nicht mehr erinnern, nur, wie Nadjas raumfüllende Einsamkeit ihm das Frösteln eingepflanzt hatte, wie er gegen diese Einsamkeit angeschwiegen hatte, wie er noch nie angeschwiegen hatte, in einem fort. Irgendwann las er das Russische auf dem

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